Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
plötzlich spürte er ihre Lippen auf seinem Mund. Es folgte ein lang anhaltender, unschuldiger Kuss in der Finsternis, der ihn in einer ganz und gar nicht unschuldigen Verfassung zurückließ.
Als Kissanka sich löste, schnappte er überrascht nach Atem, und seine Hand wanderte zu seinem Schritt, um die Dämonen dort in Schach zu halten.
»Kissanka«, stieß er leise hervor. »Das ist nicht gut, was du da tust.«
»Warum nicht?«, erwiderte sie mit einem naiven Unterton in der Stimme. »Es tröstet mich über den Tod meiner Mutter hinweg und gibt mir die Sicherheit, dass ich nicht ganz verlassen auf dieser Welt zurückgeblieben bin.«
»Ich habe nicht die ganze Geschichte erzählt«, begann Leonard vorsichtig. »Da ist eine Frau. Wegen ihr bin ich hierher deportiert worden. |141| Ich liebe sie, und ich würde meinen rechten Arm dafür geben, wenn ich mit ihr zusammen sein könnte.«
»Denkst du, sie will dich noch, wenn dir der rechte Arm fehlt?«
Ihre Stimme klang hart, und Leonard fehlten für einen Moment die Worte. Wahrscheinlich war es nur seine Abfuhr, die das Mädchen nicht verschmerzen wollte und die sie gehässig werden ließ.
»Es tut mir leid«, schob sie rasch hinterher, »ich wollte dich nicht kränken.«
»Ich liebe sie, Kissanka, ganz gleich, ob ich sie je wiedersehe.« Seine Stimme war leise und verriet trotzdem seine Entschlossenheit. »Es ist besser, wenn du das weißt.«
»Ja«, antwortete sie mit erstickter Stimme. »Ich habe verstanden. Falls es dich trotzdem mal nach einer Frau verlangt, sag mir Bescheid. Wenn wir in das gleiche Lager kommen, könnten wir uns heimlich treffen, und ich könnte dir zu Diensten sein.«
»Was redest du da?« Leonard war entsetzt. Eben noch das unschuldige Geschöpf mit den großen Augen, sprach sie nun wie eine Hure.
»Meine Unschuld ist verloren, und ich liebe dich von Herzen. Das ist alles. Außerdem sind wir Lebenslängliche«, sagte sie ruhig. »Falls einer von uns eine Familie gründen will, müsste er es im Lager tun.«
»Was willst du mir damit sagen?« Leonards Stimme klang rau. Weder von der Art noch von der Dauer der Deportation hatte er sich bisher eine Vorstellung gemacht.
»Mein Vater hat in unserem Dorf den Sohn eines bedeutenden Adligen erstochen. Er hatte meiner Schwester nachgestellt. Dafür wurde unsere gesamte Familie verbannt – ohne Aussicht auf Rückkehr. Es gibt abgelegene, ganz furchtbare Lager, deren Existenz vor allen verschwiegen wird. Dort hüten sie die wahren Geheimnisse des Zaren, sagt man. Einmal dort angekommen, wird man dort sterben – ohne einen Funken Hoffnung, die Heimat je wiederzusehen.«
»Schlaf jetzt«, erwiderte Leonard leise. Er verspürte nicht die geringste Lust, seinen Alpträumen noch einen weiteren hinzuzufügen. »Vielleicht hilft uns ein Wunder«, bemerkte er beschwichtigend. In der Not half der Glaube an Gott den meisten Menschen. Nur ihm selbst nützte es nichts, weil er sich normalerweise nicht zu den Menschen zählte, die auf einen unsichtbaren Gott vertrauten. Die Vorstellung des Schamanen |142| jedoch hatte ihn überaus nachdenklich gestimmt. Was wäre, wenn es doch etwas gab, das einer anderen Wirklichkeit entsprang und mit jeglicher Wissenschaft nicht zu erklären war?
»Du hast gesehen, was mit Mitja passiert ist«, tröstete er das Mädchen. »Selbst wenn es kein christlicher Priester, sondern nur ein Schamane war, der das Wunder vollbracht hat. Dein Bruder wird wieder gesund, und das ist das Wichtigste.«
Am nächsten Morgen mussten sie in aller Frühe ihre Habseligkeiten zusammenpacken. Beiläufig beobachtete Leonard seine beiden Kameraden, den drahtigen, verschwiegenen Aslan und Pjotr, dessen ehemals rundes Gesicht bereits Spuren der Auszehrung zeigte. In seinen dunklen Augen haftete ein Alptraum, der offensichtlich nicht enden wollte.
»Willkommen in der Hölle«, murmelte Pjotr mit einem düsteren Blick, als ihm eine der tungusischen Frauen einen Krug warmer Pferdemilch anbot. Mit einem stummen Nicken nahm er das Getränk entgegen und setzte es mit einem Naserümpfen an die Lippen. Dazu reichten die tungusischen Frauen wie am Abend zuvor frischgebackene Buchweizenfladen mit Butter.
Hier und da war ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen der Deportierten zu sehen, das jedoch sofort wieder erlosch, als der Hauptmann der Kosaken die Gefangenen durchzählte. Auch denen, die nicht persönlich betroffen waren, kam schlagartig zu Bewusstsein, dass Sibirien erste Opfer unter ihnen
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