Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
gefordert hatte – und es würden vermutlich nicht die letzten sein.
Kissanka sollte recht behalten, schoss es Leonard durch den Kopf. Wenn er es sich genau überlegte, hätte er selbst längst darauf kommen können. Warum sollte die Ochrana ihn einen Abschiedsbrief an seine Eltern schreiben lassen, in dem er hochoffiziell und freiwillig aus dem Leben schied, wenn man ihn irgendwann wieder nach St. Petersburg zurückkehren lassen wollte?
Tschirin hatte die Pferde eingespannt. Mit einem knappen Gruß und einem angedeuteten Lächeln versuchte er, die Stimmung ein wenig aufzumuntern.
Kissanka trat auf ihn zu, ihren Bruder an der Hand. Der Kleine machte mittlerweile einen recht stabilen Eindruck. Er konnte laufen, |143| und das Fieber war auch verschwunden, von der schweren Verletzung, die noch gestern an seinem Bein zu sehen war, ganz zu schweigen.
»Sag deinem Vater, dass wir ihm auf ewig dankbar sein werden.«
Kissanka schenkte dem verschüchtert dreinblickenden Tungusen ein Lächeln, das er kaum merklich erwiderte, dabei streifte ihre Hand seinen rechten Arm und drückte ihn sanft.
Tschirin brachte nur ein verlegenes Räuspern zustande, es fiel ihm offenbar schwer, ihren Blick zu erwidern.
»Er ist ein großer Schamane«, sagte er und schaute dabei zu Boden, »Wenn ihr krank seid und seine Unterstützung benötigt, lasst es mich wissen.«
»Wie sollte das gehen?« Aslan hatte Kissankas Worten mit spöttischer Miene gelauscht. »Das würde bedeuten, du weißt, wo man uns hinbringt und kannst dort ein- und ausgehen?«
»Ich kenne jeden Winkel in dieser Gegend«, erwiderte Tschirin mit fester Stimme. Ihm war anzusehen, dass er die Äußerung Aslans missbilligte. »Und ja – ich weiß, wo man euch unterbringt. Ich bin jede Woche dort draußen. Meine Brüder und ich arbeiten ausschließlich für den Zaren und seine Soldaten. Wir sind die einzigen Fremden, die das Lager betreten dürfen. Wir bringen Menschen und Vorräte und andere, merkwürdige Dinge, deren Namen wir nicht kennen. Und glaubt mir, ihr werdet für jegliche Hilfe dankbar sein.«
»Schwatzt nicht herum!«, brüllte der Kosakenkommandeur von ferne. »Seht zu, dass ihr in die Schlitten kommt!«
»Vielen Dank für das großzügige Angebot«, sagte Leonard und klopfte dem jungen Tungusen auf die Schulter.
Das Wetter war noch unwirtlicher als am Tage zuvor. Am Morgen hatte es zu schneien angefangen.
Subbota hatte Wassiljoff und seiner verbliebenen Familie mit strenger Miene erlaubt, in seinem Schlitten Platz zu nehmen. Den Blick, den er dem geheilten Jungen schenkte, war nicht zu deuten. Doch Leonard konnte beobachten, wie er einen Rosenkranz zückte und ihn betrachtete, als ob er sich dessen Anwesenheit versichern wollte, bevor er ihn wieder in die Manteltasche schob.
»Ein echtes Wunder«, bemerkte Pjotr, bevor er Tschirin, der abwartend neben seinem Schlitten stand, einen fragenden Blick zuwarf. |144| »Der Kleine hustet noch nicht einmal mehr. Bei allen Heiligen, sag mir, wie so etwas möglich ist?«
Tschirin wandte sich lächelnd zu ihm um, während er den Pferden die Futterbeutel abnahm. »Ich will mich ja nicht mit eurem Christengott anlegen, aber mein Vater kann sogar das Wetter beeinflussen und einen Blitz erzeugen, wenn es nötig erscheint. Wie ich gestern schon sagte – er steht mit Ogdy, dem Gott des Lichts, im Bunde.«
»Dann bestell ihm einen schönen Gruß, er soll machen, dass das Thermometer mindestens dreißig Grad in die Höhe klettert«, witzelte Aslan mit ironischer Stimme. Demonstrativ zog er sich die Kapuze vor Mund und Nase, bevor er sich in den Schlitten setzte.
Die Tungusen hatten zwei zusätzliche Rentierschlitten zur Verfügung gestellt, damit man die verbliebenen entlasten konnte. Zudem musste man die zurückgebliebenen Leichen bergen, um sie nach Nasimowsk zu bringen, wo spätestens mit einsetzendem Tauwetter ein christliches Begräbnis auf sie warten würde.
Die alte Goldgräberstadt war in wenigen Stunden erreicht. Der windige Ort bestand nur aus ein paar Blockhütten, ein paar Tungusenzelten und einer hölzernen Kirche. Dazu gab es ein Warenlager in einem abbruchreifen Schuppen, das angefüllt war mit Proviant für Abenteurer und Pelztierjäger und deshalb außerordentlich gut bewacht wurde. Den ganzen Tag über patrouillierten Bewaffnete um das Gebäude herum.
»Ich möchte der Frau des alten Wassiljoff die letzte Ehre erweisen und ihn und seine Familie in die Kirche begleiten.« Leonard richtete diese Bitte
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