Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
siebziger Jahre.
Regen prasselte gegen das Fenster. Der Blick auf die vereinzelten Häuser und einen dahinterliegenden freien Platz erschien ihr trostlos.
»Sie befinden sich im Hospital von Vanavara.« Die Ärztin ergriff erneut ihre Hand und streichelte sie. »Der Flug nach Krasnojarsk wäre |147| zu anstrengend gewesen, und im Camp hätte man Ihnen nicht helfen können. Deshalb mussten wir Sie zunächst einmal hierhin bringen.«
Vitaly Jurenko ist tot, schoss es Viktoria durch den Kopf. Er war ein netter Kerl gewesen, witzig und schwermütig zugleich, ein typischer Russe eben.
Sie schluckte die Tränen hinunter und wandte sich Doktor Parlowa zu, mit einem kurzen Seitenblick auf den angehängten Tropf neben ihrem Bett, dessen durchsichtiges Schlauchende in ihrer linken Handvene steckte. Dann sah sie der Ärztin in die blauen Augen.
»Kann ich mit Ihnen reden? Ich meine, privat?«
»Selbstverständlich, dafür bin ich doch da.« Doktor Parlowa rang sich ein Lächeln ab, beinahe wie eine Mutter, die sich um ihre auf Abwege geratene Tochter sorgte. »Sprechen Sie sich ruhig aus.«
Viktoria fragte sich, ob es richtig sein würde, diese so maskulin wirkende Frau – so freundlich sie ihr im Moment auch erschien – ins Vertrauen zu ziehen. Aber im Augenblick war die russische Ärztin die Einzige, die ihr für ein Gespräch – von Frau zu Frau – zur Verfügung stand.
»Da war ein Mann«, begann Viktoria unsicher. »Ich glaube, er hat mein Leben gerettet …« Doktor Parlowa hörte konzentriert zu und Viktoria schüttelte den Gedanken ab, dass die Russin sie für verrückt halten könnte. »Ich konnte spüren, wie ich meinen Körper verlassen habe – irgendwie«, fügte sie flüsternd hinzu. »Es war, als ob ich in ein dunkles Loch gezogen wurde, und dann kam dieser Mann und hat mich auf rätselhafte Weise wieder ans Licht geholt.«
Doktor Parlowa hob eine ihrer sorgsam gezupften Brauen, die wohl belegen sollten, zu welcher Kategorie Geschlecht sie gehörte – ebenso wie der fliederfarbene Lippenstift, der den schmalen Strich betonte, zu dem sich ihr strenger Mund geformt hatte. »Und weiter?«, fragte sie drängend.
»Es klingt vielleicht seltsam, aber ich bin mir fast sicher, dass er danach mit mir geschlafen hat.«
»Sind Sie vergewaltigt worden?« Parlowas unverblümte Frage verriet ihre Entrüstung.
»Nein, nein«, beeilte sich Viktoria zu sagen. »Ich kann alles nur schwer beschreiben. Es kam mir vor wie ein Rausch. Vollkommen unwirklich. |148| Er hat mir etwas zu trinken gegeben. Wir befanden uns in einer Art Hütte. Wir lagen auf Fellen. Wir waren beide nackt, und er …« Sie stockte und spürte gleichzeitig, wie ihr die Hitze den Hals hinauf schoss.
»Wie sah der Mann aus?« Doktor Parlowa gab sich alle Mühe, sachlich zu bleiben.
»Er war recht gutaussehend«, bemerkte Viktoria verlegen. »Mindestens eins neunzig groß. Er trug schwarzes, langes Haar, das ihm bis über die Schultern reichte, und er hatte ziemliche Muskeln. Dabei war er schlank und beweglich, wie ein russischer Zehnkämpfer, falls Sie wissen, was ich meine.«
Die Ärztin setzte sich mit einem Räuspern in ihrem Besucherstuhl auf. »Und … hat es Ihnen Spaß gemacht?«
»Wie soll ich das verstehen?« Viktoria wusste nicht, worauf die Frage hinauslaufen sollte.
»Na ja, wollten Sie es auch, oder war es Ihnen unangenehm?«
Der Anflug eines Lächelns auf den schmalen Lippen der Ärztin stimmte Viktoria versöhnlich. Offenbar war Parlowas Anteilnahme echt.
»Das ist ja das Verwirrende. Ich glaube, ich habe es genossen, dabei kenne ich den Kerl doch überhaupt nicht.«
»Hören Sie …«, begann Doktor Parlowa zögernd. »Ich bin nicht nur Ärztin, sondern auch Psychoanalytikerin. Manchmal, wenn ein Mensch ein Nahtoderlebnis hat – und ich fürchte, dass es sich bei Ihnen um ein solches gehandelt haben könnte –, spielt die Phantasie ihm einen Streich. Man sieht liebe Menschen, die längst gestorben sind, oder befindet sich in Situationen, die man im wirklichen Leben nicht haben konnte. Ein berauschendes Gefühl stellt sich ein. Die Psyche will uns damit den bevorstehenden Tod so angenehm wie möglich gestalten …«
Viktoria glaubte für einen Moment, sich verhört zu haben. »Warum sollte
die
Psyche so etwas tun?«, fragte sie spitz. »Schließlich hat sie doch gar nichts davon?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, versuchte Parlowa einzulenken. »Es ist nicht so, als ob ich Ihnen nicht glauben würde. Nur wenn Sie
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