Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
vergewaltigt!« Verärgert trat sie vor Lebenov, als wollte sie die alte Frau vor weiteren Unverschämtheiten schützen. »Wer immer es war – ich habe diesem Mann zu verdanken, dass ich noch lebe und nicht ertrunken bin.«
Lebenov gab sich unbeeindruckt. »Ich glaube nicht, dass Sie das beurteilen können. Immerhin wissen Sie noch nicht einmal genau, wie er ausgesehen hat. Und was tut ein Mann, der eine bewusstlose Frau zwei Tage bei sich behält, statt sie in ein Krankenhaus oder zum Arzt zu bringen?« Lebenov schien das verwirrte Mienenspiel beider Frauen zu genießen.
Kolja, der aus reiner Höflichkeit an der Tür stehen geblieben war, sah Viktoria mitfühlend an.
Von oben herab betrachtete Lebenov die Alte mit jenem prüfenden Blick, der Menschen schon verurteilt, bevor sie zu einer Verteidigung ansetzen können. »Weißt du, wer hier für das Aufstellen der Fallen verantwortlich ist?«
»Das macht jeder einzelne Stamm unter sich selbst aus«, antwortete sie abwehrend. »Wir haben das Recht, das ganze Jahr über nach alter Tradition für unseren eigenen Bedarf zu jagen.«
»Einer meiner Männer ist oben am Chekosee durch eine tungusische Selbstschusswaffe getötet worden«, erklärte Lebenov düster. »Wir werden eine offizielle Untersuchung einleiten müssen.«
»Wir haben damit nichts zu tun«, erwiderte sie leise. »Das Land hinter dem Cheko gehört nicht zu unserem Jagdrevier, und die Stämme müssen sich untereinander keine Rechenschaft ablegen, wo und wie sie ihre Fallen aufstellen.«
»Und was ist, wenn es einen von euch trifft?«
»Unsere Männer sind wachsam genug. Sie kennen die Jagdgewohnheiten ihrer Brüder. Hier ist noch nie etwas geschehen.« Lebenov |172| wechselte unerwartet das Thema, indem er Viktoria aufforderte, den jungen Mann zu beschreiben, den sie gesehen zu haben glaubte.
Sie schluckte nervös. Die schönen, asiatisch anmutenden Augen des Mannes würde sie niemals vergessen. Den Rest konnte sie nur vage beschreiben. Schweigsam hörte die alte Frau ihren stockenden Ausführungen zu. Plötzlich fiel Viktorias Blick auf ein Foto, das in einem silbernen Rahmen auf einer Kommode stand und einen etwa fünfzehnjährigen Jungen mit pechschwarzen, halblangen Haaren zeigte, der sich mit einem strahlenden Lächeln über einen riesigen, frisch gefangenen Fisch zu freuen schien.
Neben dem Foto standen eine dicke Kerze auf einem silbernen Fuß und ein massives Standkreuz christlich-orthodoxer Prägung. Ein künstlicher Strauß aus ehemals bunten Nelken, über die Jahre pastellig geworden, in einer braunen Vase komplettierte das Stillleben.
Die alte Frau war mit den Augen Viktorias Blick gefolgt. Nun musste sie offenbar nachdenken, um zu einer Antwort zu finden.
Lebenovs Brauen zogen sich missmutig zusammen, und ein muffiges Brummen entwich seiner Kehle.
Viktoria befürchtete, sich nicht klar genug ausgedrückt zu haben, schließlich war ihr Russisch zwar gut, aber längst nicht perfekt. Mit zwei Schritten war sie bei dem Foto angelangt.
»Er sah ein bisschen so aus wie der Junge hier.« Sie bemühte sich um ein unbekümmertes Lächeln, während sie auf das leicht vergilbte Schwarz-Weiß-Foto zeigte. Insgeheim hoffte sie, dass es sich um den Gesuchten handelte. Sein Lachen auf dem Bild war so befreiend und glücklich, dass ihr ganz warm ums Herz wurde.
Lebenov richtete seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf das Bild und nahm den Rahmen in die Hand. Interessiert betrachtete er das Gesicht des Jungen, ganz so, als ob es sich um einen alten Bekannten handeln würde.
»Ist das euer Sohn?«, fragte er und blickte zu der Alten hin.
Die Frau schüttelte energisch den Kopf. »Es zeigt unseren einzigen Enkel«, flüsterte sie.
»Wo ist er jetzt?« Lebenovs Frage kam so schneidend wie in einem Verhör.
»Er ist tot«, antwortete die Frau mit zitternder Stimme. Stolz hob |173| sie den Kopf. »Im Herbst 2001 ist er in Tschetschenien gefallen – für unseren Präsidenten und zur Rettung der Russischen Föderation.«
Lebenov verengte seine Augen zu Schlitzen. »Wie war noch sein Name?«, fragte er bedeutungsvoll.
»Leonid Borisowitsch Aldanov«, antwortete die Frau kaum hörbar. »Im Frühjahr 2002 hat er posthum die Heldenmedaille unseres Präsidenten erhalten.«
So langsam, wie sie sich gesetzt hatte, richtete sie sich nun auf und strich sich die Schürze glatt. Kaum einen Meter fünfzig groß, das graue Haar im Nacken zu einem dicken, hüftlangen Zopf geflochten, strahlte sie eine beachtliche
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