Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Lebenov. Der Begriff Blutsauger passt perfekt zu ihm. In dieser Jurte hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, als würde mir eine Zecke im Nacken sitzen. Und die Frau machte mir auch nicht den Eindruck, als ob sie Lebenov ins Vertrauen ziehen wollte. Ich habe da so ein Gefühl, es könnte wichtig sein, mit ihr unter vier Augen zu reden.« Viktoria machte eine wegwerfende Bewegung. »Außerdem möchte ich mich bei der alten Dame für Lebenovs Verhalten entschuldigen. Ich fand es unmöglich, wie er sie behandelt hat.«
»Wie kam er überhaupt darauf, mit dir dorthin zu fahren?« Sven sah Viktoria verständnislos an.
»Lebenov wollte eigentlich den Dorfältesten befragen, ob er den Mann kennt, der mich gerettet hat. Aber wir haben nur dessen Frau angetroffen.«
»Sag bloß, Bashtiri weiß, wer dich zum Camp gebracht hat?«
»Wenn er es wüsste, hätte er bestimmt nicht Lebenov geschickt«, erwiderte Viktoria. »Eher dessen Armee, die für die Festnahme des Mannes sorgt.«
Mit einem Murren verzog Sven Theisen sich auf den Rücksitz des Range Rovers, während er das Steuer Kolja überließ. Viktoria setzte sich auf den Beifahrersitz. Erneut wurden sie bei jedem Schlagloch kräftig durchgeschüttelt. Nach quälenden zehn Minuten erreichten sie das Jurtendorf.
Mit einem seltsamen Herzklopfen eilte Viktoria zur Jurte der alten Frau, während die Männer im Wagen warteten – nicht nur weil Viktoria |176| sie darum gebeten hatte, sondern auch, weil es wie aus Eimern schüttete und der Dorfplatz im Matsch versank.
Anstatt einfach einzutreten, zog Viktoria vorsichtig die beiden Rentierfelle beiseite und machte sich mit einem Räuspern bemerkbar. Im Innern erhob sich ein unüberhörbares Stimmengewirr. Sofort zog Viktoria sich ein wenig zurück. Ein Mann und eine Frau zeterten lautstark in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich sprachen sie Tungusisch.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie zum Wagen zurückgehen sollte, bis der Streit beendet war, doch plötzlich wurde der Vorhang beiseite geschoben und ein junger, kräftiger Kerl stürmte hinaus. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen. Er blieb für einen Augenblick vor ihr stehen und schaute irritiert auf sie herab. Ihre Blicke trafen sich. Die Energie in den grauen Augen des Fremden durchfuhr Viktorias Körper wie ein sengender Blitz. Ihr Herz schlug so heftig, dass ihr schwindelig wurde und sie sich einen Moment lang an der Jurte festhalten musste.
Bevor sie sich jedoch darüber klar wurde, was da geschah, war der Mann schon im Dickicht hinter dem Haus verschwunden. Ein wolfsähnlicher Hund folgte ihm. Statt ihm hinterherzulaufen, blieb Viktoria stehen – stocksteif, als wäre sie erstarrt.
Im Haus war es plötzlich still.
»Hallo?« Viktorias Stimme klang zaghaft, während sie erneut den Vorhang beiseite schob. Vorsichtig steckte sie den Kopf hindurch.
Vera Leonardowna saß wie verloren auf dem monströsen Sofa und hielt das Gesicht unter ihren Händen verborgen, während ihre Schultern zuckten. Sie weinte.
Als sie Viktoria bemerkte, wischte sie sich hastig die Tränen mit ihrem Ärmel ab und schnäuzte sich mit einem rot-weiß karierten Taschentuch, das sie aus ihrer Kittelschürze gezogen hatte. Für einen Moment wirkte sie völlig verstört.
»Entschuldigung«, sagte Viktoria auf Russisch. Ihre Stimme klang zaghaft. Sie verspürte noch immer die Aufregung in ihrem Innern.
Ohne Aufforderung zog sie die völlig verdreckten Schuhe aus und stellte sie an die Eingangstür. Der Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Ob er hier wohnte? Aber warum hatte die Frau dann geschwiegen? Es war der Kerl, den sie auf dem Sportplatz getroffen hatte, und er war es |177| auch gewesen, der ihr den Tee eingeflößt hatte. Aber vielleicht gab es einen guten Grund für die Alte zu schweigen, einen Grund, der in der Person Lebenovs lag – oder in der Person des Mannes, der ihr soeben an der Tür begegnet war.
»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.« Viktoria trat einen Schritt auf die Frau zu und war versucht, sie zu umarmen, weil sie ihr Mitleid erregte. »Ich habe mit Andrej Lebenov nichts zu schaffen.« Auf Strümpfen machte sie eine Geste der Abbitte. »Ich bin Wissenschaftlerin. Aus Deutschland.«
Die Frau schaute auf ihre Füße, die in bunt geringelten Socken steckten. Dann wanderte ihr Blick zu ihr hoch. Mit einem leisen Seufzer stand sie auf und ging an Viktoria vorbei zum gemauerten Herd.
»Möchten Sie einen Tee?«
Erleichtert wandte
Weitere Kostenlose Bücher