Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Schamane vom Stamm seines Vaters bei seiner Geburt erklärt hatte. Lasst endlich die Geister der Ahnen ruhen, war stets ihre Devise; dabei weigerte sie sich hartnäckig, von alten Zeiten zu erzählen.
Doch diesmal waren es nicht die höheren Weihen, die ihn zu Taichin trieben, sondern etwas weitaus Beunruhigenderes.
Der alte Mann empfing ihn mit einem unbekümmerten Lächeln. Das kleine Birkenholzpfeifchen wippte schmauchend im linken Mundwinkel. Mit einer vertrauten Geste legte der Alte seine tiefbraune, knochige |190| Hand auf Leonids breiten Rücken und schob ihn ohne ein Wort in seine Waldhütte hinein. Dann gab er Ajaci etwas Wasser zu trinken. Er selbst genehmigte sich einen Schluck Wodka aus einer kleinen Feldflasche, die er immer bei sich trug. Zusammen mit dem Tabak hielt ihn der Wodka am Leben, wie er mit seinen mehr als achtzig Jahren immer wieder beteuerte.
Für Leonid hielt er einen großen Becher Dolguksa bereit – den in Sibirien traditionellen Birkensaft. Leonid trank keinen Alkohol mehr, seid ihn sein stets betrunkener Vater im Rausch beinahe erstochen hatte.
»Was führt dich zu mir, Junge?«, fragte Taichin leise, während er Leonid bedeutete, auf dem mit verschiedenen Fellen übersäten Boden Platz zu nehmen. »Ich kann dir ansehen, dass es dir diesmal nicht um weitere Übungen geht – also?« Im Schneidersitz setzte er sich direkt vor seinen Schützling. Dem Alten entging nicht, dass Leonids Hand zitterte, als er den Becher zum Mund führte. »Hat dich deine Seele verlassen?«
»Schlimmer«, sagte Leonid, bevor er, um sich zu beruhigen, noch einen Schluck trank.
»Ist es ein Dämon, der dir die Seele genommen hat?«
»Nein, eine Frau.« Leonid schmunzelte, während er Taichins entsetztes Gesicht betrachtete. »Und als ob das nicht schon misslich genug wäre, sind oben am Cheko meine schlimmsten Feinde aufgetaucht: Bashtiri und Lebenov. Ich glaube sie wollen ein neues Gasfeld erschließen, und die Frau, eine deutsche Wissenschaftlerin, hilft ihnen, es zu erkunden.«
»Das ist ja gefährlicher, als ich es mir dachte. Die Frau macht gemeinsame Sache mit deinen Feinden?«
»Nein, so ist es nicht. Sie arbeitet nur dort. Es geht vielmehr auch um dich. Eine deiner alten Fallen hat versehentlich einen von Bashtiris Männern getötet, und nun versuchen sie zu ermitteln, wer hinter diesem Unglück steckt. Kannst du dich an Lebenov erinnern?«
»Wer könnte ihn je vergessen?« Die Stimme des Alten klang ironisch, doch mehr sagte er nicht.
»Er arbeitet mittlerweile für das GazCom-Konsortium «, erklärte Leonid. »Er ist einer der Sektionsleiter in der neuen Sicherheitsabteilung. Heute Morgen hat er Babuschka im Auftrag Bashtiris einen Besuch |191| abgestattet. Sie war vollkommen außer sich vor Angst. Sie befürchtet, er könne mich finden. Und außerdem ist sie in Sorge, dass er herausbekommt, dass die Falle von dir sein könnte.«
»Bevor du mir nicht die ganze Geschichte erzählst, kann ich mir keinen Reim darauf machen«, bemerkte Taichin mit einem gleichmütigen Lächeln. »Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.«
Widerstrebend erzählte Leonid von der Rettung der Deutschen und dass er dabei – aus der Sicht eines erfahrenen Schamanen – zu unerlaubten Mitteln gegriffen hatte.
Taichin war die Besorgnis anzusehen. »Sie hätte dich mitreißen können in die andere Welt, Junge. War dir das nicht klar?«
»Es war mir gleichgültig. Ich konnte sie doch nicht sterben lassen.«
Der Alte nickte verständnisvoll. »Und was hast du dann getan?«
Zögernd berichtete Leonid von seinem weiteren Vorgehen. Dass er es nicht geschafft hatte, sie mit seinen eigenen Mitteln aus ihrer Ohnmacht zu erwecken, und dass, als er sie ins Camp brachte, nicht nur Ajaci, sondern auch er selbst beinahe getötet worden wäre.
»Was sagt dein Herz?« Der Großonkel warf ihm einen tiefgründigen Blick zu.
»Es ist krank.«
»Dachte ich’s mir«, erwiderte der Alte mit einem ironischen Grinsen. »Was die Frau betrifft, so kann ich dir nicht helfen. Was die andere Sache betrifft, so denke ich, man sollte dem Spuk möglichst bald ein Ende bereiten. Das Gebiet um den Cheko ist heiliges Land. Es fehlte uns gerade noch, dass GazCom den gesamten Boden umpflügt.«
»Wie meinst du das?«
»Lass das meine Sorge sein, Leonid. Es ist besser, wenn du nichts davon weißt.«
»Ihr verschweigt mir etwas – du, Dedka und Babuschka.«
Taichin antwortete nicht. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte nun wie in
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