Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
Vom Netzwerk:
Platzwunde am Schienbein und eine riesige Prellung am Knie. Seine Stirn hatte auch etwas abbekommen. Das Blut lief ihm die Nase entlang hinunter zum Kinn. Gleich nach dem sein Helikopter unter Beschuss geraten und auf dem Boden aufgeprallt war, hatte er seinen Helm verloren, und seine Uniform hatte Feuer gefangen, als er, durchtränkt mit Benzin, nur durch einen Hechtsprung der Explosion hatte entkommen können.
    Wie zur Warnung heulten allenthalben Alarmsirenen, die keine Rettung |188| brachten – ganz im Gegenteil. Noch vor dem Aufprall war Leonid klar gewesen, dass sein Tod längst beschlossene Sache gewesen sein musste und dass die herannahenden Rettungskräfte vermutlich nicht dazu eingesetzt wurden, sein Leben zu schützen, sondern ihn zu töten – für den Fall, dass der Plan, ihn und die anderen zu vernichten, nicht aufgegangen war. Von nun an war jegliches Vertrauen lebensgefährlich. Irgendwo gab es einen Maulwurf in den eigenen Reihen, der eine Menge Einfluss hatte und nach seinen eigenen Regeln spielte. Die wachsende Gewissheit, um wen es sich dabei handeln könnte, beruhigte Leonid keinesfalls. Lebenovs Leute waren für den Abschuss der Regierungsdelegation verantwortlich. Die Beweise, die mit den fünf Menschen in Flammen aufgegangen waren, erschienen ihm zu erdrückend, als dass irgendein anderer dahinter stecken konnte. Seine Söldner würden herausfinden, dass es einen Überlebenden gab, und dann würden sie ihn aufspüren, falls ihm niemand half, unentdeckt die nächste Nacht zu überstehen. Doch wer sollte das sein? Die Menschen hier vergingen vor Angst in ihren demolierten Behausungen, und außer ein wenig Tee und einem letzten Rest Zwieback besaßen sie selbst kaum mehr, um sich am Leben zu erhalten.
    Ein leises Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Ein Mädchen stand reglos in einem der zerbombten Hauseingänge und sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte lange blonde Haare und war dem Gesicht nach bereits eine Frau, obwohl sie ihm viel zu dünn erschien. Sie trug einen abgetragenen hellblauen Kittel und Plastikschuhe, die viel zu groß für ihre zierlichen Füße waren. In der Hand hielt sie einen Eimer. Wahrscheinlich hatte sie sich nur hinausgewagt, um die Notdurft ihrer Familie zu entsorgen. Funktionstüchtige Sanitäranlagen gab es hier schon lange nicht mehr. Die gesamte Kanalisation war zerstört.
    Ein Militärwagen rauschte vorbei. »Duck dich!«, zischte Leonid dem Mädchen gerade noch rechtzeitig zu. Auf Knien kroch er zu ihr hin. Starr vor Schreck kauerte sie auf dem zersprungenen Pflaster. Der Eimer war umgefallen.
    »Kannst du mir helfen?«, flüsterte Leonid heiser. »Nur für ein paar Stunden.«
    Ihre Augen verrieten ihre Angst, aber auch ihr Mitgefühl, als sie seine Verwundungen registrierte.
    |189| »Mein Vater wird dich erschlagen«, murmelte sie unsicher. »Und mich dazu, wenn du ein russischer Spion bist.«
    »Ich werde euch keine Schwierigkeiten bereiten«, versicherte Leonid mit flehendem Blick.
    »Doch das wirst du«, erwiderte sie sachlich. »Aber es wäre kein Akt von Nächstenliebe, wenn ich dich hier sitzen ließe …«
     
    Ein lautes Bellen riss Leonid aus seinen Erinnerungen und katapultierte ihn vom Jahre 2001 in die Gegenwart. Er konnte nicht vergessen, was damals geschehen war; seine Erlebnisse erschienen ihm wie unerwünschte Visionen, die ihn ohne Gnade verfolgten.
    Zwischen hohen Bäumen lief er dahin, und über ihm war kein Suchscheinwerfer, sondern eine helle Sonne, die sich ihren Weg durch dichte Wipfel bahnte. Taichin, sein Großonkel und väterlicher Vertrauter, erwartete ihn bereits. Er lebte mitten im Wald, auf halber Strecke zwischen Leonids Hütte und dem Haus seiner Großeltern. Der Schamanenmeister war uralt, doch geistig und körperlich so wendig wie ein junger Rentierbock, ein heiliger Mann, dessen magische Kräfte bei weitem alles überstiegen, was die anderen Schamanen der Umgebung zu bieten hatten.
    Obwohl Leonid kein Interesse zeigte, eines Tages in die Fußstapfen seines Großonkels zu treten, bestand Taichin darauf, ihm die höheren Weihen zu erteilen, wenn die Zeit gekommen war. In seinen Augen sprach alles dafür, dass Leonid der Auserwählte war, der die Welt eines Tages vor einer Katastrophe bewahren würde. Sein Großvater hingegen befürchtete genau das Gegenteil, falls Leonid seiner vermeintlichen Bestimmung folgen sollte. Altmännergeschwätz, urteilte seine Großmutter, wenn wieder einmal die Sprache darauf kam, was der alte

Weitere Kostenlose Bücher