Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
nach einer Weile in Richtung Anlegestelle zurückblickte, dachte sie für einen Moment, sie würde halluzinieren, doch dann konnte sie ihn tatsächlich sehen. Er saß in unwegsamem Gestrüpp auf einem Baumstumpf und regte sich nicht. In Tarnkleidung, die ihn wie einen Soldaten mit dem Wald verschmelzen ließ, war er kaum zu erkennen. Den Kopf in der Pose des Denkers auf seine Hand gestützt, sah er sie unentwegt mit seinen dunklen Augen an.
Ihr Herz schlug wie wahnsinnig. Sie war ganz allein, und der Kerl mit dem langen, schwarzen Zopf machte keinerlei Anstalten, aufzustehen und sich vorzustellen. Sie schluckte und nahm all ihren Mut zusammen. Dann ging sie langsam auf ihn zu.
»Hallo?« Einen Moment hatte sie das Gefühl, dass er aufstehen und die Flucht ergreifen wollte. Doch dann lächelte er und erhob sich in einer fließenden Bewegung.
Ohne ein Wort schritt er ihr entgegen und blieb unmittelbar vor ihr stehen. Nun hatte sie keine Zweifel mehr, dass er der Mann war, der sie auf dem Sportplatz aus dem Dreck gezogen hatte und der später mit ihr in der Hütte gewesen war. Und er war es auch gewesen, mit dem sie gestern im Eingang der Jurte zusammengestoßen war.
Unvermittelt hob er seine Hand, und sie zuckte für einen Moment zurück, als er ihr in unangebrachter Vertrautheit eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen wollte.
»Es tut mir leid«, sagte er mit entschuldigender Miene, »wenn ich dich erschreckt habe.«
Für einen Moment hielt Viktoria den Atem an. Träumte sie schon wieder, oder sprach er tatsächlich Deutsch?
»Wer bist du? Wie ist dein Name?«, stotterte sie atemlos.
»Leonid.« Wieder lächelte er, diesmal befreiter und offener. Jetzt sah er exakt so aus wie der Junge auf dem Foto.
»Und warum behauptet deine Großmutter, dass du tot bist?«
»Tut sie das?« Sein Gesicht drückte Verwunderung aus, doch dann legte er eine Hand auf ihre Schulter und zog sie sanft herum. »Vielleicht weil sie nicht möchte, dass man mich in Schwierigkeiten bringt.«
|199| »Was für Schwierigkeiten?« Viktoria runzelte die Stirn und sah ihn unsicher an.
Er ging nicht auf ihre Frage ein. »Die Gelegenheit scheint günstig. Wollen wir ein Stück den Fluss hinaufgehen?«
Viktoria registrierte, wie er zur Anlegestelle sah. Offenbar wollte er nicht, dass man sie zusammen entdeckte. Das ungute Gefühl wollte nicht weichen. Selbst wenn er ihr Leben gerettet hatte, so war er doch ein Fremder, von dem sie nicht wusste, was sie von ihm zu halten hatte. »Von mir aus«, sagte sie so gleichgültig wie irgendmöglich, dabei drohte ihr Herz zu zerspringen, während sie jede Bewegung des Mannes wahrnahm – seine ausladenden Schritte, die schwarzen, abgetragenen Springerstiefel, die gefleckte Armeehose und sein dunkles Lederhemd, das er wie eine Uniform zu tragen schien.
Vielleicht war er tatsächlich ein Spinner, dem man nicht vertrauen durfte und der nur darauf lauerte, eine hilflose Frau zu vergewaltigen.
Leonid legte zwei Finger an seine Lippen, es sah aus, als ob er einen lautlosen Pfiff ausstoßen würde.
Plötzlich war ein Rascheln zu vernehmen, und hatte sie sich bis eben noch gefragt, wo er seinen Wolf gelassen hatte, so kam das Tier mit einem gewaltigen Satz aus dem Gebüsch gestürmt und ließ sich von seinem Herrn in freudiger Erregung den Hals tätscheln. Die Hände des Mannes wirkten kräftig und doch feingliederig, als er zärtlich durch das dichte Fell des Tieres fuhr und etwas in einer, für Viktoria völlig unbekannten Sprache murmelte.
»Wie viel Zeit haben wir?« Er sah sie fragend an.
»Nicht viel.« Für einen Augenblick blickte sie angespannt zur Anlegestelle zurück. »Wenn mein Kollege zurückkommt und ich nicht hier bin, wird er die Soldaten im Camp alarmieren.«
Warum sagte sie das? Leonid sah ihr forschend in die Augen. Hatte sie Angst, dass er ihr etwas antun würde?
»Du warst es, der mir das Leben gerettet hat, nicht wahr?«
Leonid nickte verhalten und wich dabei ihrem forschenden Blick aus.
»Ich habe nur getan, was getan werden musste.«
Er wollte weitergehen, doch sie hielt ihn am Arm zurück. Als er ihr ins Gesicht sah, nahm sie all ihren Mut zusammen.
»Warum hast du mit mir geschlafen?«
|200| Seine Miene drückte Verblüffung aus. »Wie soll ich das verstehen?«, fragte er ausweichend. Um sicherzugehen, dass sie ihn nicht missverstanden hatte, war er wieder ins Russische gewechselt.
Viktoria zögerte einen Moment. »Na, wie schon?«, antwortete sie ebenso ungeduldig
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