Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Konstruktionshalle aufhielten, wurde Aslan zu geheimnisvollen Exkursionen abgeordnet, die ihn wochenlang vom Lagerleben erlösten. Ob es ihm dabei besser erging, verriet der Turkmene nicht. Auch ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft im Pijaja-Gebirge hatte er nichts von seiner Schweigsamkeit verloren.
Anfang Juli befiel Leonard eine schwere Krankheit. Starkes Fieber, Übelkeit, Kopf- und Gliederschmerzen, dann kam – mitten bei der Arbeit – ein totaler Zusammenbruch.
»Vielleicht ist es die Grippe«, verkündete Doktor Primanov, der Lagerarzt, lapidar, nachdem er Leonards ermatteten Körper einer eingehenden Begutachtung unterzogen hatte. Leonard hatte die Untersuchung stoisch über sich ergehen lassen; er hatte lediglich nach mehreren Decken verlangt, weil er trotz der Hitze fror. Dabei war er insgeheim froh, dass sich überhaupt ein Arzt im Lager befand. Obendrein einer, der einst der besten Sankt Petersburger Gesellschaft angehört hatte. Es hieß, Primanov sei der Leibarzt eines angesehenen Bankiers gewesen. Wie und warum er in Ungnade gefallen war, darüber gab es nicht einmal Gerüchte.
Ohne dass der Arzt sich über seine Erkrankung genauer ausließ, spürte Leonard, dass es ernst um ihn stand. Er fühlte sich hundeelend, als zwei ältere Lagerinsassen ihn am nächsten Tag auf Befehl Primanovs aus dem Lazarett trugen, um ihn in ein dürftig ausgestattetes Einzelzimmer zu verlegen, das der Kommandantur normalerweise als Abstellkammer diente.
»Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, bemerkte der Arzt mit einem gezwungenen Lächeln.
|203| »Werde ich sterben?« Leonard sah den Arzt aus fiebrig glänzenden Augen an.
»Ich weiß es nicht«, seufzte Primanov schwer. »Aber Sie werden verstehen, dass ich die anderen Lagerinsassen nicht in Gefahr bringen darf.«
Leonard schloss für einen Moment die Augen. »Doktor, ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit«, flüsterte er schwach.
In seinen Fieberträumen begegnete ihm Katja, von der er bisher noch keinen einzigen Brief erhalten hatte. Schon seit Monaten wartete er auf ein Lebenszeichen des Mädchens, das man ihm bei guter Führung versprochen hatte.
Als ein Bote des Kommandeurs dann unvermittelt mit einem Brief in seinem Krankenzimmer erschien, glaubte Leonard noch immer zu träumen. Doch der Brief war echt. Zumindest meinte er, Katjas Schrift zu erkennen. Die Zeilen waren tatsächlich, wie man es ihm gesagt hatte, an ihre Mutter gerichtet.
Mit zitternden Händen nahm Leonard das Schreiben aus dem verschmutzten Kuvert. Einen Moment lang beschlich ihn ein schlechtes Gewissen. Schließlich hatte Katja das Schreiben im Glauben verfasst, dass es nur ihre Mutter lesen würde. Er zögerte kurz, dann schob er seine Bedenken beiseite.
Meine liebe Mutter
, stand da. Katjas Handschrift war längst nicht so sauber wie sonst.
Mir geht es gut. Ich hoffe, Dir und meinen Brüdern geht es auch gut und Ihr müsst euch nicht allzugroße Sorgen machen. Dabei solltet Ihr Euch keinesfalls schuldig fühlen. Dass ich in diese verzwickte Lage gekommen bin, war ganz allein meine Schuld. Auch Leonard kann nichts dafür. Ich habe seinen Tod zu verantworten, und das macht die Sache noch weit schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können. In Gedanken bin ich Tag und Nacht bei ihm, und er ist bei mir. Vor allem, weil ich sein Leben unter dem Herzen trage.
Leonard schluckte und spürte Tränen in seinen Augen. Mit einem Mal wurde ihm das Herz schwer. Unfassbar! Sie war schwanger, und das Kind war von ihm.
Wenn es ein Junge wird, werde ich ihn Leonard nennen, und wenn er die schönen blauen Augen seines Vaters bekommt, werde ich eines Tages
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zu ihm aufschauen und denken, dass er zu mir zurückgekehrt ist. Wenn es ein Mädchen wird, werde ich es Viktoria nennen, damit es eine Siegerin wird und keine Verliererin wie seine Mutter. Ach Mamutschka – bald wirst Du eine Babuschka sein und Deinen Enkel noch nicht einmal in den Armen halten können. Verzeih Deiner ungezogenen Tochter, die immer soviel besser sein wollte als Deine Söhne, und es doch nicht geschafft hat. Ich weiß, dass Du Dir ein besseres Leben für mich erträumt hast, in der Hoffnung, dass Leonard mich eines Tages zur Frau nimmt. Aber er war ein Nemez und ein hochgestellter dazu. Seine Eltern hätten niemals die Zustimmung zu unserer Hochzeit gegeben. Schließlich bin ich nur ein russisches Mädchen aus einfachen Verhältnissen und obendrein eine Kriminelle. Und doch bin ich seine Frau geworden, wenn auch nur
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