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Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
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haben wohl gelernt, dass sie direkt zur Sache kommen müssen. »Ich habe Hunger. Es reicht nicht«, sagt er. Und dass er von den Mitarbeitern eines Wohlfahrtsverbands, die im Lager arbeiten, Schuhe bekommt, die nicht passen, Kleider, die kratzen und bei ihm Ausschlag am Hals verursachen. Dass das Essen nicht reicht, weil er stark sei und Hunger habe. Dass er von niemandem Geld bekomme und nicht verstehe, warum die einen so und die anderen so behandelt würden. Dann sagt er einen Satz, den ich schon in der Welt der Tafeln immer wieder gehört habe: »Ich will mir selbst etwas kaufen.« Niemand will abgespeist werden mit Almosen oder Lebensmittelpaketen. »Do you understand?«, so endet jeder Satz. Meist fragt er es gleich zweimal hintereinander. Immer wieder zeigt er mir die Packung mit Grieß. »Ich habe mir diese Packung von einem anderen Lagerbewohner geliehen, ich habe nichts mehr. Ich koche mir nachher diese Packung und dann habe ich wieder nichts mehr.« Er hält die Packung hoch, pocht mir den Fingern der anderen Hand darauf. »Grieß, Grieß! Sonst nichts, that’s all. Das reicht nicht. It’s not enough! Do you understand? Do you understand?« Er regt sich auf, das ist nicht gut für ihn, sagt er. Er hat Diabetes. Aufregung ist nicht gut für ihn, aber er kann nichts dagegen unternehmen. Er will sich gesund und angemessen ernähren, aber wie? Es reicht nicht, und niemand nimmt Rücksicht auf seine Krankheit. Dann fragt er: »When do you come back?« Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mich gerade auf einer Skala von Gleichgültigkeit in Richtung Widerstand bewegt habe.

Alles reduziert
    Im hintersten Winkel von Bayern. Am Bahnhof zweisprachige Schilder (deutsch-tschechisch). In der Stadt stoße ich auf einen sonderbaren Reste-Baumarkt. Er befindet sich in ­einer orange getünchten Halle. Bevor ich ihn betrete, erschrecke ich mich fast zu Tode. Ein Zwerg aus Kunststoff liegt in einer Art Sarg vor dem Eingang. Der Gartenzwerg ist un­gefähr 1 Meter 50 groß, ein echter Ego-Booster für das Wettrüsten mit dem Nachbarn. Der Baumarkt für preissensible Heimwerker und Gartenfreunde ist nur die Spitze des Eisbergs. Immer mehr Produkte lassen sich an speziellen Orten kaufen, für die es noch keinen passenden Überbegriff gibt, eine Art Resterampe der Gesellschaft, ein Teil der Armutsökonomie. Second Hand oder Second Class für den unteren Teil der Gesellschaft. Auf meinen Recherchen zu Tafeln stoße ich immer wieder (absichtlich und unabsichtlich) auf Sozialkaufhäuser und Restemärkte. Einige dieser Orte schaue ich mir genauer an.
    So lande ich mitten im Winter bei eisigen Temperaturen vor der noch verschlossenen Tür eines Sozialkaufhauses. Zusammen mit mir wartet eine türkische Familie frierend ­darauf, dass sich die Pforten pünktlich um 10 Uhr öffnen. Menschen treffe ich drinnen nur wenige. Dafür begegnet mir richtig viel Schund. Und alles davon ist im Angebot: »20 % auf Porzellan, 50 % auf Biergläser«. Es gibt dort, aufgereiht und ordentlich aufgestellt: graue Plüschsofas, schwere Kristallvasen, Diddl-Maus-Puzzles, Filme im VHS -Format ( Titanic , Terminator , Over the Top ), Osterschmuck (Kerzen in Eierform), bunte ­Dekobänder (am laufenden Meter), schwarze Deckenfluter (die in den 1980er Jahren modern waren), Esstische (mit zwei, vier und sechs Stühlen), meist aus erdbebensicherer ­Eiche. Für jede Familienform das Richtige: Single, deutsche Rama-Familie oder türkische Großfamilie. Der Stil der Möbel ist durchweg rustikal, Kitsch. Immer wieder schießt mir eine Frage in den Kopf: Wer kauft das? Als ich später bei Gesprächen mit Tafelnutzern auch über Sozialkaufhäuser spreche, erfahre ich, dass den meisten das Angebot zu teuer ist. Oder zu unbrauchbar.
    Nachdem es mir bei den Möbeln zu langweilig wird, mache ich mich auf in die Bücherecke. Die gebrauchten Bücher sind nach Themen sortiert und mit handgeschriebenen Aufklebern beschriftet: Reise ( Der Chiemgau ), Wissenschaft ( Die Reichsidee ), Familie ( Die Hausfrau – die erste repräsentative Umfrage ), Jugend ( Reise zum Mond ), Biographie ( Jeanne d’Arc ) und Romane ( Träume haben ihren Preis ). Auch hier geht es nicht ­darum, dass etwas Brauchbares gekauft wird, sondern um die Suggestion einer Normalität, die gar nicht mehr existiert.
    Nach der Erkundung der Bücherecke bin ich wieder gestärkt für weitere Exkursionen. Ich entdecke alles Mögliche: ein halbmeterhohes Jazzmusiker-Ensemble für 50 Euro, altmodische

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