Schandtat
den Kopf drehte und mich ansah. »Hey, Poe. Bist du heute gar nicht in der Schule?«
Ich verdrehte die Augen. »Ich steh doch hier, oder etwa nicht?«
»Das tust du allerdings. Ich bin übrigens auch nicht in der Schule.«
»Da du hier bist, liegt das wohl nahe.«
Er lächelte. »Ich war beim Arzt, und Tante Vicky hat gesagt, wenn ich Unkraut jäte, darf ich den Rest des Tages zu Hause bleiben.« Er deutete auf den Löwenzahn. »Häusliche Pflichten.«
»Was ist denn los?«
»Hatte nen Furunkel am Rücken. Der Arzt hat den Mistkerl erstochen.« Er stand auf, wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab und tat, als steche er mit einem Messer zu. Weiße, knorrige Knie mit grünen Flecken lugten unter seinen Shorts hervor. »Willst du mal sehen?«
»Nein.«
Er lächelte. »Dann eben nicht. War wie ein Vulkanausbruch. Vesuvmäßig.« Er verzog das Gesicht, die Sonne blendete ihn. »Was machst du eigentlich hier?«
»Ich geh wieder zurück nach Hause.«
»Wieso?«
»Ich pass nicht hierher. Und das nervt.«
»Das ist das Blödeste, was ich je gehört hab.«
Ich starrte ihn an. »Warum?«
Er lachte, dann spuckte er einen Schwall braunen Schleims ins Gras. »Du passt nicht hierher, weil du nicht hierher passen willst, Mädchen.«
»Na und?«
»Na, es könnte auch anders sein.«
»Wie das?«
»Du könntest nicht hierher passen, weil du nicht hierher passen kannst.« Er lächelte, und an seinen Schneidezähnen klebte Tabak.
»Das ist doch sowieso alles dasselbe, Velveeta.«
»Nein, ist es nicht. Du könntest hierher passen, aber du willst es nicht. Ich werde aber nie hierher passen, weil einige Dinge eben einfach nicht sein sollen.«
»Du könntest genauso hierher passen wie jeder andere auch.«
Er machte ein übertrieben blödes Gesicht, so als wäre ich die Blöde. »Du lässt dir einfach die Haare schneiden, besorgst dir ein paar normale Klamotten, legst ein bisschen Make-up auf, und schon könntest du sein, wer immer du sein willst. Aber ich? Selbst wenn du mich in einen Tausend-Dollar-Anzug stecken würdest, hättest du immer noch
einen Trottel namens Velveeta vor dir. Daran wird sich auch nichts ändern.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ich bin nicht rübergekommen, um mir so was anzuhören. Schon gar nicht heute. Ich brauch niemanden, der mir ein schlechtes Gewissen einredet, weil ich es doch angeblich so gut hab.«
Er runzelte die Stirn, dann lächelte er. »Na ja, ich will eben nicht, dass du gehst.«
»Warum?«
»Weil du die einzige Freundin bist, die ich hier habe, darum. Und außerdem hätte ich dich nicht für einen Schisser gehalten.«
»Ich bin kein Schisser.«
»Bist du doch, wenn du dich einfach nach Hause verziehst wie ein geprügelter Hund mit eingezogenem Schwanz.«
»Willst du mir etwa weismachen, dass du nicht sofort abhauen würdest, wenn du könntest?«
Er starrte mich mit großen Augen an, und der Ausdruck auf seinem langen, merkwürdigen Gesicht änderte sich ständig. »Wie kommst du darauf, dass es für mich woanders besser sein könnte?« Er zuckte die Achseln. »Ich kann ja wohl kaum vor mir selbst weglaufen.«
»Du wünschst dir also, jemand anderer zu sein?«
»Die Hälfte der Zeit wünschte ich, gar nichts zu sein, und in der anderen Hälfte wünschte ich, ich könnte einfach aus meiner Haut springen und sie in einem Haufen am Boden zurücklassen.«
»Och, eine Tüte Mitleid für Velveeta.«
Er kniete sich wieder hin und zog einen Löwenzahn aus der Erde. »Ist doch wohl nichts dabei, wenn ich mal sag, wie
ich mich fühl, und außerdem musst du mir jetzt echt kein mieses Gefühl geben, nur weil du dich selbst mies fühlst.« Dann drehte er den Kopf seitlich zu mir hoch. »Hast du nicht ein paar Taschen zu packen oder so?«
Ich beobachtete ihn noch eine Minute beim Unkrautjäten, dachte darüber nach, was er gesagt hatte, und ging dann ins Haus.
Als Dad nach Hause kam, hatte ich drei Stunden lang auf meinem Bett gelegen und nichts anderes gemacht als nachzudenken. Ich hörte ihn in der Küche, wo er zweifellos die Lebensmittel fürs Abendessen heraussuchte, und tappte nach unten. »Hi.«
Er drehte sich um. »Hi.«
»Das mit heute tut mir leid.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, mir tut es leid, dass ich nicht schon viel früher zur Vernunft gekommen bin.«
Ich lehnte mich an den Türrahmen. »Ich werd nicht gehen.«
Er lächelte, dann nickte er. »Das habe ich mir gedacht.«
»Warum?«
»Weil ich dich kenne. Zumindest glaube ich, dass ich dich
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