Scharade der Liebe
dass Ihr vor mir zurückzuckt, als sei ich eine Hexe.
Nun, vielleicht bin ich eine. Vielleicht ist es ja klug von Euch, Angst vor mir zu haben.« Langsam richtete Jack sich wieder auf und verschränkte die Arme über der Brust. »Seht Ihr nicht hübsch aus, wie Ihr hier ganz nutzlos herumsitzt und darauf wartet, dass Euch jemand über die Stirn streicht und Euch sagt, wie reizend Ihr seid, wie zerbrechlich?
Aber Ihr seid überhaupt nicht zerbrechlich, nicht wahr? O nein, Ihr seid unerbittlich und kalt. Ihr wollt einen Mann hassen, der Euch vor vielen Jahren wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Dieser Hass beherrscht Euch, und sonst ist da nur Leere. Was für ein wundersames Ding: Eure Gegenwart und Eure Zukunft - sie sind schon verblichen, noch bevor sie vorbei sind, weil Ihr nichts getan habt, um Euer Leben mit irgendetwas Gutem und Nützlichem zu füllen.
Ihr habt einen zwölfjährigen Jungen gehasst - Euren eigenen Sohn -, weil Ihr selbst dem Leben nicht entgegentreten konntet, weil Ihr unfähig wart, Eure eigenen Entscheidungen zu treffen.«
»Verdammt! Haltet den Mund, elendes kleines Luder!«
Jack richtete sich auf. Sie zog eine Augenbraue hoch und sagte mit leiser Überraschung in der Stimme: »Ich? Ein Luder? Zumindest bin ich ein aufrichtiges Luder, Ma'am. Ich tue nicht so, als sei ich krank, um Sympathien zu erringen. Ich verstoße nicht mein eigenes Fleisch und Blut, weil ich nicht in der Lage bin, die Vergangenheit so zu sehen, wie sie war.«
»Nein, Ihr irrt Euch. Ihr seid grausam und ungerecht. Ihr wisst nicht, was ich erlitten habe.«
Jack lächelte die Frau an, deren Wangen sich vor Wut gesund röteten, deren Brust sich mit mehr Leidenschaft hob und senkte, als sie in den vergangenen zwölf Jahren wahrscheinlich je empfunden hatte. Ihr Lächeln wurde strahlender. »Ihr habt Glück, Ma'am. Der Wahnsinn bekommt Euch. Mögt Ihr ihn noch viele Jahre genießen. Mögt Ihr ihn an Euer Herz drücken und ihn so warm wie einen Liebhaber und so nährend wie eine Mutter empfinden, denn das wird das Einzige sein, was Ihr noch erlebt und was Ihr Euch gestattet zu erleben.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und rief über die Schulter: »Georgie, Liebling? Bist du bereit, dich von Ihrer Ladyschaft zu verabschieden?«
Das kleine Mädchen, das mit einem guten Gehör ausgestattet war, drehte sich langsam zu seiner Schwester und der schönen Frau um, die die Lehnen ihres Sessels fest umklammert hielt. »D-Danke, Ma'am, d-dass ich m-mit Eurem Sch-Schal spielen durfte.«
Alice blickte auf den Schal, der durch die Finger des kleinen Mädchens geglitten war. Der Anblick hatte ihr
Herz erwärmt. Bei dem Gespräch mit dem Kind, dem erstem Kind, das sie seit langem gesehen hatte, hatte sie sich gefragt, warum sie sich solche einfachen Freuden versagt hatte. Sie blickte zu Jack und dann zu der Stelle, an der ihr Sohn stand. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand neben der Tür, sein Gesicht war blass und angespannt. Der Blick seiner Augen war ihrer.
Sie erhob sich, stellte sich neben ihren Sessel und sagte ganz ruhig: »Du bist legitim, Gray. Der Mann, den du so lange verachtet hast - sein Blut fließt in deinen Adern. Ja, du hast mein Gesicht, aber sein Blut. Vielleicht wirst du eines Tages diesem Mädchen hier beibringen wollen, was es heißt, eine richtige Frau zu sein. Dann zeigt sich vielleicht das Blut deines Vaters. Geht jetzt, beide. Und nehmt das Kind mit. Sie hat Angst vor all den lauten Stimmen.«
»Danke, Mutter.«
Alice machte eine abwehrende Geste und sagte nichts mehr.
»G-Gray«, sagte Georgie und zupfte an seiner Hose, »die Lady ist k-komisch, aber s-sie ist s-so schön.«
»Ja«, erwiderte er und nahm sie auf den Arm, »aber vielleicht ist sie jetzt nicht mehr ganz so komisch wie noch vor einer halben Stunde. Weißt du was, Georgie? Du bist ein ganz besonderes kleines Mädchen. Nun, was würdest du denn gern mit mir und meiner Frau zu Mittag essen?«
»J-Jack hat m-mir auch g-gesagt, ich sei b-besonders, aber ich habe ihr n-nicht g-geglaubt«, meinte Georgie. Sie lächelte sie beide an.
30
Gray sagte leise zu Lord Burleigh: »All die Jahre habt Ihr das Geheimnis bewahrt. Ich danke Euch dafür. Aber jetzt ist es vorbei. Ich bin meines Vaters Sohn. Glaubt mir, es fällt mir leichter zu akzeptieren, dass das Blut dieses Ungeheuers in mir fließt, als zu glauben, ich sei ein Bastard, das Ergebnis einer Vergewaltigung meiner Mutter. Und was das Blut angeht, so spielt es sowieso keine
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