Scharade der Liebe
aufwischte. »Ist sie tot?«
»Nein«, erwiderte Gray. »Sie wird nicht sterben.«
Sir Henry grunzte. »Dann ist es eine regelrechte Verschwendung, Dr. Brace noch einmal hierher zu holen. Wozu brauchen wir ihn denn, wenn sie am Leben bleibt?« Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und
ging.
In diesem Augenblick wusste Gray, wie er mit Sir Henry Wallace-Stanford weiter verfahren würde.
Jack ballte die Fäuste. »Ich bringe ihn um.«
»Nein«, erwiderte Gray ruhig. »Das brauchst du nicht. Vertrau mir, Jack. Nun, ich glaube, es gibt noch etwas, womit wir Georgie helfen könnten.«
Zehn Minuten später war das kleine Mädchen fest in ein heißes Handtuch eingewickelt.
Als Dr. Brace, ein allein stehender junger Mann, der nur zu gern dem alten Greeley den Cit Palace für seine Mutter und seine Großmutter abgekauft hätte, kurz darauf eintrat, sah er, dass Georgie weiteren Schleim ausspuckte. »Heiße Handtücher? Mein Gott, es wirkt. Woher wusstet Ihr das, Mylord?«
»Meine Großmutter hat mich als Kind in heiße Handtücher eingewickelt, als ich einmal sehr krank war. Ich war völlig darin eingepackt und bekam kaum Luft. Da ich aber immer noch lebe und mich bester Gesundheit erfreue, dachte ich, dass diese Behandlung ihr nicht schaden würde.«
Dr. Brace legte seine Hand leicht auf Georgies Stirn, dann auf ihre Wangen. Er horchte ihr Herz und ihre Lungen ab. »Es ist fast nichts mehr zu hören.« Er lächelte Jack zu, die mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden saß.
»Sie kommt durch, Miss Winifrede. Ich habe zwar befürchtet, dass sie eine Lungenentzündung bekommt, aber dazu ist es Gott sei Dank nicht gekommen. Sie haben einen ganz fabelhaften Ehegatten.«
Jack blickte Gray mit so unverhüllter Dankbarkeit an, dass er zusammenzuckte. Er hätte ihr am liebsten gesagt, dass er keine Dankbarkeit von ihr erwartete. Er wusste zwar noch nicht, was genau er von ihr wollte, aber Dankbarkeit bestimmt nicht.
Nachdem Gray gedroht hatte, sie über die Schulter zu werfen und sie zum Essen hinunterzu tragen, willigte Jack schließlich ein, Georgie bei Mrs. Smithers und einer lächelnden Dolly zurückzulassen.
Sie blickte sich noch einmal um, als ob sie schreckliche Angst davor hätte, ihre kleine Schwester allein zu lassen. Georgie schlief fest, eingehüllt in ein weiteres heißes Tuch.
In den vergangenen drei Stunden hatte Jack ihr den Rücken geklopft, wenn sie hustend aufgewacht war, ihr den Mund ausgewaschen, ihr zugeflüstert, wie sehr sie sie liebte, und ihr gesagt, dass sie alles abhusten solle. Jedes Mal hatte das kleine Mädchen brav ausgespuckt.
»Lächle mich an, Jack. Du schaffst es. Denk einfach nur an die göttliche Mrs. Finch und lächle.«
Jack verdrehte die Augen.
20
Auf dem Weg nach unten sagte Jack ganz ruhig: »Gerade ist mir klargeworden, dass mein Stiefvater, wenn du nicht mein Mann wärst, mich wieder in der Gewalt hätte. Er wäre in der Lage, mich zu verprügeln und mir nichts zu essen zu geben. Das kann doch nicht richtig sein, Gray.«
»Nein, aber andererseits, Jack, könntest du immer noch deine Betttücher zusammenknoten und wieder aus dem Fenster deines Zimmers klettern. Darnley hat mir erzählt, dass dich die Dienstboten für deine tapfere Flucht sehr bewundert haben.«
»Mrs. Smithers hat versucht, mir heimlich etwas zu essen zu geben, aber Sir Henry hat sie erwischt. Er hat ihr gedroht, sie ohne Zeugnis zu entlassen, wenn sie das noch einmal machte.«
Er zog sie an sich und küsste sie auf die Nasenspitze. »Georgie schläft, ihre Lungen sind frei, und es ist an der Zeit, deinen dünnen, kleinen Bauch mit Essen zu füllen.«
Die Feindseligkeit zwischen Jack und ihrem Stiefvater war während des Abendessens beinahe mit Händen zu greifen. Das Essen hätte zur Katastrophe werden können, wurde es aber nicht, weil Gray Mrs. Finch, die bereitwillig mitspielte, in eine neckische Unterhaltung zog. Als Jack aufstand, sagte er: »Meine Liebe, warum gehst du nicht mit Mrs. Finch in den Salon? Sir Henry und ich haben noch etwas zu besprechen.«
»Nein«, erwiderte Jack, und ihm war klar, dass es heute Abend kein Gespräch mit Sir Henry unter vier Augen mehr geben würde. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf. Sie setzte sich wieder. Mrs. Finch stand neben ihrem Stuhl, und Darnley, der nur ein paar Meter entfernt wartete, fragte sich, was wohl jetzt wieder für eine missliche Situation eintreten würde.
»Nun gut«, sagte Gray. Sir Henry zog eine Augenbraue hoch.
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