Schartz, S: Elfenzeit 15: Die Goldenen Äpfel
an dieser Stelle aufgewacht und hätte sich neben der Bank wiedergefunden, von der er im Schlaf gefallen war.
Aber stattdessen blieb alles, wie es war. Bis auf den Umstand, dass er nun verletzt war und den Fuß nicht mehr richtig aufsetzen konnte. Schluchzend humpelte er weiter, bis das letzte Lämpchen hinter ihm zurückblieb und ihn völlige Dunkelheit umgab.
Wenn jetzt die U-Bahn kam! Albert blieb stehen und lauschte. Zitterte da nicht das Gleis? Und hörte er nicht ein fernes Rumpeln?
Ein Wind fegte heran und wehte ihm beinahe den Hut vom Kopf. Da kam sie schon! Der Stoßwind war das untrügliche Zeichen dafür, die Luft, die der Zug im engen Tunnel vor sich herschob, weil sie ihm nicht ausweichen konnte.
Und hinter einer Biegung konnte Albert einen schwachen Lichtschein erkennen.
Er durfte nicht mehr vor, nicht zurück. Verzweifelt tastete er nach der Tunnelwand und presste sich dagegen, so eng er konnte.
Der Zug bog um die Ecke, Scheinwerfer stanzten grelle Löcher in die Dunkelheit, und Alberts Herz blieb fast stehen, als er kurzzeitig ein gutes halbes Dutzend der Schauergestalten im Licht erkennen konnte, die von allen Richtungen auf ihn zukamen.
Dann raste die Bahn an ihm vorbei, mit hell erleuchteten Fenstern, und Albert schrie. Er schrie, weil der Lärm unbeschreiblich war, weil der Druck ihm die Brust fast eindrückte, und aus Todesangst, weil nur wenige Handbreit zwischen ihm und dem dahinrasenden Gefährt lagen. Und er schrie, weil die Menschen drin im Zug nichts von seinem verzweifelten Kampf ahnten, weil sie wie alle normalen Menschen ihrem ganz normalen Dasein nachgingen. Sie kamen vielleicht von der Arbeit, vielleicht von einem Vergnügen, würden nach Hause gehen und sich erschöpft oder entspannt ins Bett legen und keinen Gedanken daran verschwenden, dass sich gleich neben ihnen eine Tragödie abgespielt hatte.
Albert vergaß darüber sogar den Schmerz in seinem Knöchel; nie wieder wollte er so etwas Schreckliches erleben. Dabei war es nur ein Zwischenhöhepunkt des Schreckens, und er wusste es. Ein kleines Intermezzo, bevor die Monster sich seiner wieder annahmen.
Diese Wesen also waren es, die Herbert, Frank, Frank zwei, Ruth und Bock umgebracht hatten. In ihren letzten Momenten mussten seine Freunde von der Straße genauso einsam gewesen sein wie Albert nun. Inmitten einer Millionenstadt, und trotzdem wusste niemand von seinem Existenzkampf, seiner Not und Angst. So viele Menschen, und nicht ein einziger, der auch nur Zeuge hätte sein können. Wahrscheinlich würde man nicht mal seine Überreste finden oder erst irgendwann bei Wartungsarbeiten und ihn nicht mehr identifizieren können, weil die Ratten inzwischen seinen Ausweis gefressen hatten.
Und niemand würde je sein Versteck finden. Das Geld würde verrotten, nutzlos und sinnlos, und ein kleiner armer Hund fand kein neues Zuhause.
Albert lachte über die Sinnlosigkeit seiner Gedanken. Kein Wunder, dass er auf der Straße gelandet war, er war eben ein Versager durch und durch, einfach nur nutzlos. Und hilflos, das Gegenteil eines Helden. Kein Wunder, dass sein Sohn das eines Tages erkannt und sich von ihm abgewandt hatte.
Sie kamen auf ihn zu, er konnte sie spüren. Als er einen Schritt versuchen wollte, wäre er beinahe gestürzt. Sein Knöchel war innerhalb weniger Minuten auf doppelten Umfang angeschwollen, der Fuß passte kaum mehr in den Schuh. Keine Chance, noch weiterzugehen. Er konnte vielleicht mühsam entlanghumpeln, aber wozu? Sie hatten ihn doch sowieso schon eingekreist.
Schlurfende Schritte, Röcheln und rasselnder Atem. Sie tauschten Worte, die Albert nicht verstand. Es klang wie Deutsch, aber nicht so richtig. Nur ein paar Fetzen wie »Essen«, »Blut« und »Fleisch«.
»Bitte«, flüsterte er. »Lasst mich gehen. Ich schmecke bestimmt nicht gut ...«
Er schlotterte am ganzen Leib, konnte aber nicht mehr schreien, denn es war alles aus ihm draußen, was seine Lungen hergaben. Nur noch »Bittebittebitte« brachte er hervor. Der Schweiß lief ihm aus den Poren, als wäre er in der Sauna, und er hatte so sehr Angst, dass sich alles in ihm zusammenkrampfte, selbst die Eingeweide. Er krümmte sich leicht.
Seine Augen hatten sich so an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie einen Rest Licht auffangen konnten, von dort, wo der sichere Ausgang lag. Wo das ganz normale Leben war, an dem Albert bisher nahezu jeden Tag hatte verzweifeln wollen. Wie froh wäre er nun darum gewesen, wieder dort zu sein und in Selbstmitleid
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