Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
näher
als sonst«, sprach sie und sah betreten auf den Boden, als sei ihr dies alles
peinlich.
27 Jahre verheiratet, Witwe und sie
stand vor mir und lächelte. Würde auch ich in zwei Jahren noch herkommen und
mich an dem Leid andere Laben, damit ich nicht vergaß? Hatte ich genug
Erinnerungen, damit mir dies nicht passierte?
Kapitel 6
Die Wochenenden waren in den letzten
Wochen zu einem Vorhof der Hölle mutiert. Ich wusste nicht, wie ich die freie
Zeit überstehen sollte. Nichts schien die unendlich vielen Minuten mit Leben
füllen zu können.
Aber ich hatte keine Wahl, es blieb
mir nichts anderes übrig. Ich musste mich an diesen Rhythmus gewöhnen, fünf
Tage Normalität, zwei Tage Leere.
Doch heute war es anders. Heute war
der 1. Mai, ein Feiertag und mich erwarteten vierundzwanzig Stunden, die ich
irgendwie überstehen musste, bis mich morgen wieder die Normalität empfing.
Unschlüssig saß ich am Küchentisch und
trank meinen Kaffee.
Was sollte ich heute bloß tun?
Ich könnte mich ins Bett legen und
darauf warten, dass der Tag vorbeizog. Aber das kam nicht wirklich in Frage.
Ich ertrug es ja kaum, die Nacht über in diesem Bett zu liegen. Wie sollte ich
da die annähernd doppelte Zeitspanne überstehen?
Morgen war es genau einen Monat –
einen Monat ohne Robert. So lange waren wir noch nie voneinander getrennt.
Bisher war meine zweiwöchige Dienstreise letztes Jahr die längste Zeit gewesen
– und damals hatten wir jeden Tag telefoniert. Die Rechnung hatte
apokalyptische Ausmaße, ein Telefonat nach London war schließlich nicht gerade
billig.
»Und wenn es mich Millionen kosten
würde, nichts hält mich davon ab, dich anzurufen«, hatte Robert beschwichtigt,
als mich beim Erhalt der Rechnung fast der Schlag getroffen hatte.
Seit einem Monat gab es keine Anrufe
mehr und meine Erinnerungen an seine Stimme wurden immer mehr zu einem
verblassenden Gebilde – unwirklich, fremd, vergangen.
Ich sah mich um. Der Mülleimer war
randvoll. Die Verpackungen unzähliger Fertiggerichte türmten sich bereits zu
einem Berg auf. Von Lasagne bis Pizza war alles dabei. Ich würde aufräumen. Es
war wenigstens etwas Sinnvolles, das es zu tun galt. Wenn ich mir dabei Zeit
ließ, könnte ich so gute drei Stunden überbrücken, überschlug ich im Kopf. Wenn
ich das Geschirr per Hand abwusch und nicht die Spülmaschine benutzte, würde
mir das nochmals eine halbe Stunde schenken. Kurz überlegte ich auch meine
Wäsche per Hand zu waschen, verdrängte diesen Gedanken aber schnell wieder. Das
ging dann doch zu weit.
Aufräumen – das war der Schlüssel,
hatte mir Sophie nach der Sitzung gesagt. Ich sollte aufräumen und den schweren
Ballast aussortieren, der mich jeden Tag an Robert erinnerte. Er würde sich
nicht mehr anziehen, warum bräuchte ich also einen Kleiderschrank voller
Herrenhemden?
Sie hatte außerdem gesagt, ich solle
dies alles nicht allein machen und hatte mich dabei mit strengem Blick
gemustert. Dabei wusste sie anscheinend genau, dass ich vor allem diesen Teil
ihres Rates nicht befolgen würde, aber sie ließ es darauf beruhen. Ich konnte
keinen bitten, dies mit mir durchzustehen – ich wollte es nicht. Diese
Erinnerungen waren meine Erinnerungen, sie gehörten mir allein, er gehörte mir
allein und niemand hatte das Recht, von diesen Erinnerungen zu profitieren oder
sie gar mit Füßen zu treten. Das würde ich nicht zulassen.
Ich stellte meine Tasse in die Spüle
und bewältigte das bisschen Abwasch, dass auf der Arbeitsfläche stand. Fünfzehn
Minuten, länger hatte es nicht gedauert. Wenn meine Schätzungen weiterhin so
danebenlagen, würde bis Mittag alles blitzen und blinken.
Wie in Zeitlupe wanderte ich durch
die Wohnung – fegte, wischte, saugte Staub, sortierte alten Zeitungen, brachte
den Müll raus und als ich auf die Uhr sah, war es halb zwei.
Wenigstens etwas.
Aber mit Sophies Verständnis von Aufräumen
hatte dies alles nichts zu tun.
Würde ich das wirklich schaffen?
Ich ging ins Schlafzimmer und öffnete
seinen Kleiderschrank. Seine Anzüge waren ordentlich auf der Kleiderstange
aufgereiht. Daneben tummelten sich die gebügelten Hemden. Er hatte immer alles
in die Reinigung gebracht. Du bist meine Frau, nicht meine Wäschemagd, hatte er
gesagt und ich war im dankbar, dass ich mich nicht mit Bügelfalten herumärgern
musste.
Darüber gab es mehrere Regalböden mit
den bequemeren Sachen. Ich hatte diesen Schrank immer verflucht, er war einfach
nicht für Menschen meiner
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