Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
stehlen.
Kein Mann auf der Welt ist das Wert.«
Vorsichtig führte sie mich an den Küchentisch,
als wäre ich eine kostbare Porzellanfigur, die man nur mit Samthandschuhen
anfassen durfte und ich nahm Platz. Geschwind hatte sie ein neues Glas gefüllt,
reichte es mir und setzte sich ebenfalls.
Und dann schwiegen wir.
Ich kannte Jessica schon mein halbes
Leben. Wir waren zusammen zur Schule gegangen, beide nach Leipzig gezogen, um
hier zu studieren und noch immer war sie eine meiner engsten Freundinnen. Eigentlich
sogar meine Beste.
Dabei verband uns so gut wie nichts
miteinander. Während sie ihren Kopf immer in den Wolken trug, stand ich auf dem
Boden. Sie war eine Draufgängerin, die sich von einer Männergeschichte in die Nächste
stürzte. Sie hatte es nie verstanden, warum ich mich schon so früh an Robert
gebunden hatte. Du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir, wer weiß, was für
tolle Typen da draußen auf dich warten, hatte sie immer gestöhnt.
Doch ihre herausragendste Eigenschaft
war es, das kaum eine Sekunde verging, in der sie nichts sagte. Immer fand sie
irgendetwas, dass sie zum Besten geben konnte. Nie fehlten ihr die Worte. Dabei
war sie nie aufgesetzt oder gekünstelt, es lag einfach in ihrer Natur.
Und nun saßen wir uns schweigend
gegenüber. Still hatte sie das Weinglas umfasst und starrte auf dessen Inhalt.
Da sah ich ihn. Einen goldenen Ring
an ihrem linken Ringfinger, der von einem großen Stein gekrönt war. Sie schien
meinen verwunderten Blick zu spüren, sah zu mir auf und folgte meinem Blick auf
ihre Hand.
»Mhhh, ich wollte es dir eigentlich
sagen. Tja…«, begann sie zu stammeln.
»Du bist verlobt?«
»Naja sieht ganz so aus, oder?« Ihrem
betretenen Gesichtsausdruck folgte ein strahlendes Lächeln.
Ich sprang auf und nahm sie in die
Arme. »Du wirst heiraten!«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Deshalb war sie hier! Ich hatte sie
nicht einmal zu Wort kommen lassen. Sie wollte das Glück, das sie empfand, mit
mir teilen. Wenn ich einmal heirate, wirst du die Erste sein, die davon
erfährt, hatte sie mir geschworen.
Und nun war sie zu mir gekommen, um
ihr Versprechen einzulösen – und ich hatte sie nur angeschrien.
Minutenlang hielten wir uns
gegenseitig fest und Tränen der Freude rannen unsere Gesichter herunter.
»Wer ist denn der Glückliche? Kenn
ich ihn?«
Ich versuchte mich an ihren letzten
Freund zu erinnern, kam damit aber nicht wirklich weiter.
»Er heißt Christoph.« Sie flüsterte
seinen Namen fast andächtig.
Ich überlegte von neuem. Christoph –
ich versuchte die letzten Männer durchzugehen. Auch wenn ich mich nicht genau
an jeden Namen erinnern konnte, ein Christoph war nicht dabei gewesen. Fragend
sah ich sie an.
»Du kennst ihn. Er ist, naja wie soll
ich das sagen-«
»Jessica jetzt komm schon, erzähl?«
Ich würde gleich platzen vor Neugier.
»Er ist mit uns zur Schule gegangen.«
Peinlich berührt sah sie mich an.
Da fiel es mir wie Schuppen von den
Augen. Christoph – der schüchterne Christoph, der es irgendwie geschafft hatte,
Jessica zu überreden, mit ihm zusammen auf den Abschlussball zu gehen. Er hatte
sie auf Händen getragen. Man hatte sehen können, wie glücklich er gewesen war.
Jessica hingegen hatte an dem Abend immer wieder versucht, Reißaus zu nehmen. Schließlich
stand Paul auf ihrer Abschussliste und nicht Christoph.
»Aber wie denn das? Du hast ihn doch
seit dem Abschlussball nicht mehr gesehen, oder?« Meine Gedanken begannen zu
kreisen.
»Wir sind uns vor knapp zwei Monaten
auf der Straße begegnet. Er sah so erwachsen aus, gar nicht wie der Junge vom
Schulball.« Als sie das so erzählte, begannen ihre Augen zu funkeln. »Er wäre
frisch nach Leipzig gezogen, hat er mir erzählt und dann hat er mich gefragt,
ob ich nicht mit ihm einen Kaffee trinken würde. Naja aus einem Treffen wurde
ein Zweites und dann war das irgendwie so ein Selbstläufer. Und gestern Abend
hat er mich dann gefragt.«
Schon vor zwei Monaten – Jessica hatte
mir bisher immer brühwarm von ihren neuen Liebschaften berichtet und nun war
sie bereits seit zwei Monaten mit einem Mann zusammen. Einem Mann, den sie
heiraten würde und ich wusste nichts davon. Es tat weh, auch wenn ich wusste,
warum sie nicht früher gekommen war. Ich kannte das Wieso.
Vor zwei Monaten war Robert gestorben
– das Leben war unaufhaltsam an mir vorbeigerauscht und hatte mich dabei einfach
vergessen.
»Du hättest so viel eher kommen
sollen«, stöhnte ich und
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