Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
noch verunsichert, wegen dieser Trauergeschichte. Oder er wusste
genau, dass er damit auf taube Ohren stoßen würde. Der Grund war mir im Endeffekt
egal. Ich war einfach nur froh, dass es so war.
Herr Merckel sah dies allerdings ganz
anders. Wenn nicht gerade eine Grippewelle die Belegschaft so stark minimiert
hätte, dass jeder Kopf von Nöten gewesen wäre, hätte er mich postwendend nach
Hause geschickt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mich strafend
anzusehen, in der Hoffnung, dass ich von selbst ging.
Als ich die Wohnungstür öffnete,
strahlte mich Jessica an. In der Hand hielt sie zwei Flaschen Wein und ehe ich
es mich versah, hatte sie sich an mir vorbeigezwängt, einen Kuss auf die Wange
gehaucht und war in der Küche verschwunden.
»Man könnte auch ›Hallo‹ sagen«, rief
ich ihr hinterher und verschloss die Tür.
»Ach das wird doch alles überbewertet.«
Sie grinste dabei über das ganze Gesicht und suchte derweilen nach einem
Flaschenöffner.
»Du hättest wenigstens anrufen können«,
wand ich ein.
»Ach was? Damit du mir wieder sagst,
dass es dir heute nicht passt?« Pure Entschlossenheit funkelte in ihren Augen
auf. »So, nun raus mit der Sprache! Was hast du die letzten Wochen angestellt?
Hast du mehr zu Stande gebracht, als dir die Schulter zu brechen?«
»Ich hab sie mir ausgekugelt und
nicht gebrochen«, korrigierte ich murmelnd und nahm ihr eines der mehr als
vollen Gläser ab.
Ungeduldig sah sie mich an. Tippte
sie da etwa mit dem Fuß auf den Boden, als würde sie in einer langen
Warteschlange an der Einkaufskasse stehen?
Was hatte ich also in den letzten
Wochen getan?
»Ich war bei einer Selbsthilfegruppe.«
Schließlich war das ja eigentlich etwas Gutes. Ich hatte mich nicht
eingekapselt, ich war aktiv gewesen - und es war das Einzige, was mir einfiel.
Skeptisch zog sie die Augenbrauen
hoch. »Das hat dir Alex eingeredet, oder?«
Ich nickte.
»Boah und ich hab ihm noch gesagt, er
soll dich mit diesem Quatsch in Ruhe lassen. Aber er hatte sich das so in den
Kopf gesetzt, deine Seele oder was auch immer zu retten.« Immer noch sichtlich
angewidert schüttelte sie den Kopf. »Und wie war‘s?«
»Hilfreich, und inspirierend, …
aufschlussreich. Es war sehr gut, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen«,
log ich.
»Das kannst du ja gern Alex erzählen,
wenn er danach fragt, aber ich hab eigentlich von der Wahrheit gesprochen.«
Darauf konnte ich nichts erwidern.
Auch wenn Jessica was Männer anging absolut keine Menschenkenntnis an den Tag
legte, mich kannte sie dafür umso besser. Ich konnte ihr nichts vormachen.
»Und wie oft warst du da?« Noch immer
war ihr kritischer Blick auf mich geheftet, während sie einen tiefen Schluck
aus ihrem Glas nahm.
»Jeden Montag.«
»Und jetzt die Wahrheit!« Sie stellte
ihr Weinglas auf die Arbeitsfläche und kam einen Schritt auf mich zu. »Ich hab
gesagt, ich will die Wahrheit hören.«
Konnte sie es nicht einfach darauf
beruhen lassen? Musste sie ständig weiter bohren? Langsam spürte ich die Wut in
mir aufsteigen.
»Das ist die Wahrheit!«, zischte ich
sie an.
»Das kannst du vielleicht dir selbst
weismachen, aber ich bin nicht bescheuert!« Auch ihre Stimme hatte einen
schneidenden Ton angenommen.
»Sag mal willst du mich verarschen? Du
tauchst hier einfach aus dem Nichts auf, löcherst mich mit Fragen und wenn ich
dir dann eine Antwort gebe, ist sie dir nicht Recht?!«
»Emilia…«
»Nein! Nichts Emilia! ICH BIN ES
LEID!!! Warum könnt mir mich nicht alle in RUHE LASSEN! GEH UND LASS MICH IN
RUHE!« Das Glas rutschte mir aus der Hand und zersprang auf den Fliesen.
Schallend traf ihre Hand meine linke Wange.
Sie hatte mich tatsächlich
geschlagen! Pfeffernd, blitzschnell. Die Stelle an der sie mich getroffen hatte
brannte wie Feuer.
»Jetzt hörst du mir mal ganz genau
zu!« Ihre Worte trafen mich ebenso wie der Schlag mit geballter Wucht. »Reiß
dich verdammt nochmal zusammen! Er ist tot, mausetot und er kommt nicht wieder!
Finde dich damit ab! Du musst jetzt endlich wieder anfangen, dein Leben weiter
zu leben und hör verdammt nochmal auf damit, dich selbst zu belügen!«
Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände.
Meine Wange glühte förmlich von dem Schlag und ihre kühle Haut schaffte
zumindest ein bisschen Linderung.
»Du bist eine starke Frau! Du bist
die stärkste Frau, die ich kenne! Ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen.«
Ihre Stimme klang nun ruhig und sanft. »Lass dir nicht deine Identität
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