Schatten der Liebe
sie an. »Mr. Bancroft möchte Sie sofort sehen.« Merediths Herz schlug bis zum Hals. Sie mußte einfach nominiert worden sein. Wie ihr Vater und vor ihm sein Vater würde Meredith Bancroft den Platz bei Bancroft's einnehmen, der ihr durch Geburt bestimmt war. Oder anders, richtiger ausgedrückt:
Die nächsten sechs Monate würde sie die Chance bekommen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Den Freudentränen nahe, klopfte Meredith an die Tür und betrag das Büro ihres Vaters. Niemals hatte jemand anderer als ein Bancroft in diesem Büro gesessen und diesen Schreibtisch benutzt. Wie hatte sie je befürchten können, daß ihr Vater diese Tradition ignorieren würde!
Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, stand ihr Vater am Fenster. »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn ungeduldig.
»Guten Morgen, Meredith«, sagte er und drehte sich um. Seine Stimme und seine Miene waren ungewohnt freundlich. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und beobachtete sie, wie sie näher kam. Zwar gab es in dem riesigen Büro eine gemütliche Sitzecke, aber Philip hatte sie noch nie benutzt. Er empfing jeden Besucher von dem hochlehnigen schwarzen Ledersessel aus, den großen antiken Schreibtisch wie eine breite Barriere zwischen sich und dem anderen. Meredith war sich nicht sicher, ob er dies unbewußt tat, oder ob es aus der Absicht heraus geschah, die Leute einzuschüchtern.
Er stand nicht auf, um sie zu begrüßen, so wie er nie aufstand, wenn eine Angestellte - gleich welcher Rangstufe -den Raum betrat, selbst wenn sich alle anderen Anwesenden erhoben. Meredith wußte, daß dies ein schweigender Protest gegen weibliche Führungskräfte war. Außerhalb des Kaufhauses verhielt er sich jedoch auch ihr gegenüber wie ein perfekter Gentleman. Sie hatte in den letzten Jahren begriffen, daß er die beiden Sphären strikt trennen wollte. Abends war er ganz der liebevolle Vater, am nächsten Morgen im Büro lief er mit einem kurzen, unhöflichen Nicken an ihr vorüber.
»Du hast ein hübsches Kleid an«, sagte er mit einem Blick auf ihr beiges Cashmere-Ensemble.
»Danke.« Meredith war überrascht.
»Das steht dir wesentlich besser als die strengen Kostüme, die du meistens trägst. Frauen sollten Kleider tragen.« Ohne ihr Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, deutete er mit dem Kopf auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch, und Meredith setzte sich, verzweifelt bemüht, ihr Nervosität zu verbergen. »Ich habe die ganze Geschäftsleitung hergebeten, weil ich etwas bekanntgeben will. Aber ich wollte zuerst mit dir sprechen. Der Vorstand hat über einen Interimspräsidenten abgestimmt.« Er machte eine Pause, und Meredith lehnte sich gespannt nach vorne. »Sie haben Allen Stanley gewählt.«
»Was?« stieß sie erschrocken und ungläubig hervor.
»Ich sagte, sie haben Allen Stanley gewählt. Und - ich will dich nicht anlügen - sie haben es auf meine Empfehlung hin getan.«
»Allen Stanley?« unterbrach Meredith und sprang empört auf: »Allen Stanley ist seit dem Tod seiner Frau das reinste Nervenbündel. Er hat weder die Fähigkeiten noch die Erfahrung, eine Kaufhauskette zu leiten ...«
»Er arbeitet seit zwanzig Jahren in der Finanzabteilung«, knurrte ihr Vater, aber Meredith ließ sich nicht einschüchtern. Ihre Wut basierte nicht allein auf der Tatsache, daß sie um ihre Chance betrogen worden war, sondern vor allem auf der unglaublichen Dummheit der Wahl gerade dieses Stellvertreters. Sie stemmt die Hände auf seinen Schreibtisch: »Allen Stanley ist der perfekte Buchhalter! Du hättest keine schlechtere Wahl treffen können, und das weißt du auch! Jeder andere, jeder andere wäre geeigneter gewesen ...«In diesem Moment dämmerte ihr die Wahrheit, und sie mußte sich am Schreibtisch festhalten, weil ihre Knie den Dienst versagten. »Deshalb hast du Allen Stanley vorgeschlagen, nicht wahr? Weil er Bancroft's unmöglich besser leiten kann als du. Du setzt absichtlich die Existenz unseres Unternehmens auf Spiel, nur weil deine Eigensucht...«
»Ich verbiete dir, so mit mir zu reden!«
»Komm mir jetzt bloß nicht mit väterlicher Autorität!« warnte Meredith zornig. »Du hast mir tausendmal gesagt, daß im Geschäft unsere Verwandtschaft nicht existiert. Ich bin kein Kind mehr, und ich spreche hier auch nicht als deine Tochter. Ich bin Vizepräsident und Hauptaktionär dieser Firma.«
»Wenn einer der anderen Vizepräsidenten es wagen würde, so mit mir zu sprechen, würde ich ihn auf der Stelle entlassen
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