Schatten der Vergangenheit (German Edition)
Höhe.
„Ich rufe den Sicherheitsdienst, wenn Sie nicht sofort kehrt machen“, sagte sie nur ruhig und mit einem Ton, der Philippe an einen Lehrer im Internat erinnerte.
Keine gute Erinnerung, denn der hatte ihn immer einen verzogenen Bengel genannt.
„Dann rufen Sie ihn mal, denn ich gehe erst, wenn ich Ana gesehen habe!“
Mit dem Lehrer war er auch fertig geworden – mit allen, bis auf seinen Stiefbruder.
Ein Baby brüllte laut, sehr laut genaugenommen, denn es schrie sich die Seele aus dem Leib. Das musste Anas Sohn sein, sonst nahm sicher niemand sein Kind mit zur Arbeit.
Philippe ging an der Sekretärin vorbei, die ihm den Weg versperren wollte, aber er schob sie einfach auf die Seite. Er mochte vielleicht nicht viel mehr als die Frau wiegen, aber er war immer noch ein Mann und einen Kopf größer als Hartings Drachen.
„Wie kommen Sie dazu!“ rief sie entrüstet.
„Wollen Sie mit Gewalt hier vorbei?“
„Ich schlage keine Frauen, Miss“, sagte er zu ihr und öffnete die Türe.
„Mister Harting wünscht Sie hier nicht.“
Warum wohl? Weil er Angst hat, seine Frau würde mit ihm davonlaufen – oder er würde sehen, dass das Kind nicht von ihm war?
Eine ältere Frau in Schwesternuniform hielt ein Baby. Schwesternuniform? Welcher Generation gehörte Harting nur an, dass das Kindermädchen eine Uniform trug.
Der Raum sah wie ein Kinderzimmer aus. Auch eine Möglichkeit, ein Büro einzurichten, dachte Philippe. Es war ein Luxuskinderzimmer, mit allem, was ein Baby so brauchte – einschließlich der Nanny. Nur seine Mutter war nirgends zu sehen, wie Philippe missbilligend feststellte.
Klein Peter hatte eine kräftige Lunge und brüllte noch lauter. Die Schwester seufzte und sagte zu ihm irgendetwas auf Spanisch. Es half auch nichts.
„Darf ich mal?“ fragte Philippe auf Spanisch und streckte seine Arme aus.
Die Schwester, dunkelhäutig und eindeutig Lateinamerikanerin, sah ihn erstaunt an.
„Was machen Sie hier?“ fragte sie irritiert und hielt das Baby fest.
Sie war sich nicht sicher, ob sie es ihm geben sollte.
„Ana besuchen“, mehr brauchte er ihr nicht zu sagen, denn entweder hatte sie von dem Verbot seines Besuches noch nie gehört oder sie war ein Fan der beliebten Telenovelas. Eine neue brasilianische Produktion hatte nämlich einen Darsteller, der in vielem Philippe ähnelte und äußerst populär war - und so reichte sie Philippe das schreiende Baby.
Philippe nahm es vorsichtig und sah es an. Er hatte genug kleine Kinder gehalten und in einer Minute war das Baby still. Es griff nach Philippes Siegelring und Philippe strich dem Baby über die zarte Wange. Es sah ihn mit blaugrünen Augen an, die von dunklen Wimpern umrandet waren. Das Baby hatte zwar nicht seine Augenfarbe, aber Philippe hatte einmal Babyfotos von Caroline gesehen. Klein Peter sah ihr ähnlich, verdammt ähnlich – oder war es der Einfluss von der gemeinsamen Großmutter, Ana Maria Alvarez? Noch bestand Hoffnung, dass das Baby nicht seines war.
„Na, Pedro, was machen wir mit dir?“ fragte er.
Und wer ist dein Vater?
„Wusste nicht, dass Sie mit Kindern so ein Händchen haben“, sagte die Schwester.
„Ich habe einige Kinder“, sagte Philippe und schaukelte das Baby.
Er ging mit ihm zum Fenster und sah hinaus. Auf dem Parkplatz standen unzählige Autos. Eines davon gehörte Benjamin, der dort auf ihn wartete und sicher jede Minute auf die Uhr sah.
Verdammte Scheiße, es war vielleicht wirklich sein Kind, dachte er in dem Moment. Das Kind konnte nichts dafür, alleine seine Mutter war für dieses Unglück verantwortlich. Und natürlich seine eigene Mutter, die solange gewartet hatte, bis sie seinen echten Vater offenbarte.
„Ich fragte mich schon, wann du hier auftauchen wirst.“
Philippe drehte sich um und sah Ana an. Er war einen Moment wirklich sprachlos – was nicht so oft vorkam, schon gar nicht bei Frauen.
Harting hatte Einfluss auf sie ausgeübt. Das war nicht mehr die wilde Sechzehnjährige, die er in Calais aufgegabelt hatte, sondern eine Frau, die sich elegant kleidete, die ihre Haare geföhnt trug... Ana war Hartings Paradefrau geworden.
Sie sah Jahre älter aus, stellte er schockiert fest. Und sie sah nicht glücklich aus. Aus ihren Augen war dieser Trotz, diese Aufmüpfigkeit und Wildheit gewichen. Beides Eigenschaften, die er an Ana geliebt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher