Schatten der Vergangenheit (German Edition)
sie jetzt in der Hand hielt, nahm und beschloss, bei ihren Großeltern zu leben. Seither hatte sie die Villa Alvarez nur zweimal betreten.
Für Ana hatte sich nichts verändert, nicht nur Marta war immer noch die Alte. Noch immer war die große Halle der Villa mit den schwarz-weißen Fliesen kühl und sauber, noch immer hingen ihre streng aussehenden, bigotten Ahnen in dunklen Bilderrahmen an den hohen Wänden und entlang der prächtigen Steintreppe, die in den ersten Stock führte. Noch immer standen große Palmen bis zum prächtigen Innenhof hin, dort wo früher ihre Mutter ihre Teenachmittage mit den anderen Matronen verbrachte. Sie bildete sich ein, noch immer das Klappern der silbernen Teelöffel zu hören, aber niemand saß mehr in dem Innenhof.
Ana stellte den Koffer ab.
„Ist niemand zu Hause?“ fragte sie Marta. „Doch, doch. Alle wissen, dass Sie kommen...“
Hatten sie vielleicht doch eine Überraschung für sie geplant und sie deshalb nicht abgeholt? Hoffnung stieg in Ana auf, die kurz danach zunichte gemacht wurde.
„Ana...“
Die Baritonstimme von Don Geraldo hallte in der großen Halle. Sie sah die Treppe hoch. Dort stand ihr Vater. Er hatte sich in den letzten Jahren verändert und nicht zu seinem Vorteil. Er hatte tiefe Falten um die Augen und eingefallene Wangen. Don Geraldo war in jungen Jahren ein gutaussehender Mann gewesen. Seine spanischen Ahnen, gemischt mit den blassen, englischen Vorfahren hatten eine interessante Mischung ergeben, aber jetzt sah er nur noch müde und übergewichtig aus. Er sah müder als zu Ostern aus, als sie das letzte mal hier war, stellte Ana, ein wenig erschrocken, fest.
„Hallo Vater.“ Er kam die Treppe herab und blieb vor ihr stehen. Sollte sie ihn umarmen? Sie hatte Angst. Was sollte sie tun, wenn er es ablehnte.
„Meine kleine Tochter sieht so erwachsen aus“, sagte er leise und strich in einer für ihn untypischen Geste über ihre Wange – und Ana schluckte den Knoten in ihrer Kehle hinunter.
„Marta soll deinen Koffer in dein altes Zimmer bringen“, sagte er und machte eine Handbewegung zu dem Dienstmädchen, das sich sofort beeilte, seinem Befehl nachzukommen.
„Du bleibst doch?“ fragte er dann unsicher. Schon lange hatte er gelernt, dass er seine Tochter nicht befehlen konnte. Er musste immer eine List anwenden.
Immerhin fragte er, dachte Ana. „Ja, einige Tage, du weißt, die Polospiele...“
„Ja, natürlich, Polo...und dann?“ fragte er und der Missmut in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er hatte doch dafür gesorgt, dass sie keinen Job in einer der großen Banken und Fonds fand. Wohin wollte sie? Sie war doch noch ein Kind.
„Ich werde einen Job annehmen.“ Bei Peter Harting, aber das behielt sie für sich.
„Job?“ Er murmelte etwas, das Ana nicht verstand. „Wo ist Mama?“ fragte sie.
Er sagte nichts zu ihrem Studium. Es war immer so gewesen. Ihre guten Noten, ihre vielen Klassen, die sie übersprungen hatte, ihre Leistungen zählten einfach nichts. Nur wenn sie einen Tag ein Kleid anzog oder ein Polospiel gewann, dann bezeichnete er sie plötzlich als seine Tochter. Vielleicht spielte sie deshalb so gut Polo, weil es das Einzige war, was sie mit ihrem Vater verband.
„Sie sollte jeden Moment kommen. Sie kam vorhin von der Messe zurück und kleidet sich noch um.“
Ihre religiöse Mutter, die sich nicht nehmen ließ, jeden Tag in die Morgenmesse zu laufen, hatte sich in dieser Hinsicht auch nicht verändert. Warum sollte sie sich verändern?
Ana hatte für Religionen nichts über. Sie waren ihr zu frauenfeindlich und einer mystischen Gestalt zu vertrauen, widersprach jedem wissenschaftlichen Prinzip und ihrer Vernunft. Wo war nur ihre Vernunft vorletzte Nacht gewesen?
„Vielleicht solltest du dir auch etwas anderes anziehen“, schlug Alvarez vor und sah auf ihre alte Jeans.
„Mein Sortiment an Kleidung ist etwas beschränkt, Vater“, sagte Ana trocken.
Sie verschwieg, dass sie das Geld ihres Vaters sehr wohl zu einem großen Teil – und Dank Philippe – in Kleidung angelegt hatte. Sie hatte auch das gelbe Chanelkleid von der Nacht mit Philippe dabei. Sie konnte sich davon einfach nicht trennen. Wenn sie an dem dünnen Seidenchiffon roch, so roch sie sein Eau de Toilette. Wie verzweifelt war sie denn!
„Du hast dich nicht verändert. Wahrscheinlich sind in dem Koffer eine Reithose, Reitstiefel und eine weitere
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