Schatten Der Versuchung
weitergegeben worden ist und sehr viel Macht hat.
Natalya sprach Slavica den Text mehrere Male langsam vor. Die Krankenschwester nickte und stimmte den Gesang an, indem sie die fremdartige Betonung übernahm und die Worte mit leiser, melodischer Stimme murmelte.
Natalya machte einen tiefen, reinigenden Atemzug und ließ ihn wieder entweichen. Sie hatte mit der Technik, den Geist vom Körper zu trennen, häufig kleinere Wunden an ihrem Körper behandelt, aber noch nie bei jemand anders. Es war gefährlich und schwierig, alles Körperliche aufzugeben und zu der reinen, heilenden Energie zu werden, die gebraucht wurde. Und in Vikirnoffs Körper einzudringen ... Was, wenn ihr ein Fehler unterlief? Wenn sie etwas falsch machte und alles nur noch verschlimmerte ?
Schlimmer kann es nicht werden, ainaak enyém. Ich halte nicht mehr lange durch. Wenn du nicht in meinen Körper eintrittst und ihn heilst, werde ich dir den Gefallen tun zu sterben und dir die Notwendigkeit ersparen, neue Mittel und Wege zu finden, mich umzubringen.
Natalya hatte keine Ahnung, ob er einen Scherz machen wollte oder es ernst meinte, doch seine Worte bestärkten sie in ihrem Entschluss. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Fort mit Schaden, kann ich da nur sagen. Du machst mich rasend.
Ich weiß.
Seine schnurrende Stimme klang viel zu selbstgefällig. Aber das leise Echo von Schmerzen war deutlich wahrzunehmen. Es fiel Vikirnoff zusehends schwerer, sie vor den furchtbaren Qualen abzuschirmen, die ihn Blut schwitzen ließen. Natalya blendete alle Schuldgefühle, Ängste und Zweifel aus. Sie musste aus ihrer Haut schlüpfen, ihr Ego mitsamt allen Unsicherheiten abstreifen und zu reiner Energie werden, zur Essenz des Lebens, einer geistigen Kraft, die so leicht war, dass sie sich ohne Fleisch und Knochen bewegen konnte.
Sie fing ebenfalls an zu singen. Die rhythmischen Worte halfen ihr, sich ausschließlich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Als sie die Loslösung von ihrem Körper spürte, geriet sie wie immer bei diesem Vorgang einen Moment lang in Panik, zwang sich aber, ihr eigenes Selbst abzulegen und loszulassen. Sie wusste, dass Vikirnoff bei ihr war, als wäre er ein Schatten in ihrem Bewusstsein. Sie wusste nicht, ob er dort war, um ihr zu helfen, falls sie Unterstützung brauchte, oder weil er befürchtete, sie könnte versuchen, ihn zu töten.
Sie fand sich in ihrem eigenen Körper wieder. Leichte Röte stieg ihr in die Wangen. Sie brachte es nicht über sich, Slavica anzuschauen und ihr Versagen einzugestehen. Was habe ich falsch gemacht?
Nichts. Du bist dir meiner Anwesenheit bewusst geworden und hast dich davon ablenken lassen. Das passiert allen Heilern, wenn sie versuchen, in den Körper eines anderen einzudringen. Probier's noch mal, Natalya. Du scheinst ein Naturtalent zu sein.
Ich habe das bisher nur bei mir selbst gemacht.
Aber ohne Anleitung. Niemand hat dir gezeigt, wie es geht, doch du hast es allein geschafft. Du musst eine genauso mächtige Heilerin sein, wie es alle Drachensucher gewesen sind. Ich bleibe bei dir, um deine Sicherheit zu gewährleisten. Wenn du meinen Tod wolltest, würdest du das nicht auf dich nehmen.
Die unglaubliche Müdigkeit in seiner Stimme gab ihr Kraft und Entschlossenheit. Wieder ließ sie ihren Atem langsam entweichen und befreite ihren Geist von ihrem Körper. Ihr ganzes Bewusstsein konzentrierte sich ausschließlich auf Vikirnoff, auf seinen geschundenen, blutenden Körper und die furchtbaren Wunden, die ihm ein Vampir, das verkommenste aller Geschöpfe, zugefügt hatte.
Natalya wusste, dass sie nicht an sein Inneres rühren durfte und seine Erinnerungen ignorieren musste, aber es fiel ihr schwer, sich von seinem Bewusstsein zu distanzieren. Auf irgendeine Art waren sie bereits miteinander verbunden, und ein Teil ihrer selbst, der nur auf Instinkt und Emotion beruhte und ihr eher fremd war, fürchtete seinen Tod. Wieder holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen, und konzentrierte sich erneut auf den Gesang. Die Worte halfen ihr, ihre Kräfte zu sammeln, und zogen sie in Vikirnoffs Körper, sodass sie wie ein reines, heilendes Licht in ihm schwebte.
Seine Verletzungen waren sehr schwer, schlimmer als alles, was sie je erlebt hatte, und überstiegen ihre Erfahrungen im Heilen bei Weitem. Natalya fragte sich, wie er in dieser Verfassung überhaupt noch durchhalten konnte. Im Vergleich zu den Wunden, die Arturo ihm zugefügt hatte, waren die tiefen Furchen, die ihre Krallen auf seinem
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