Schatten Der Versuchung
verabscheute alles an dieser Situation. »Karpatianische Männer werden also zu Vampiren. So entstehen Vampire.«
Hat man dir das nicht beigebracht?
»Wer hätte es mir beibringen sollen?« Natalya seufzte. »Kein Wunder, dass ihr karpatianischen Jäger so ein mörderischer Haufen seid. Deshalb fühle ich die Dunkelheit in euch. Ihr seid den Vampiren sehr ähnlich.«
Ja und nein.
»Das sind ja großartige Neuigkeiten. Mein Zukünftiger ist ein potenzieller Untoter. Klebt etwa ein Neonschild auf meiner Stirn: ›Blutsaugende, hundsgemeine Monster, die gern morden und verwüsten, bitte melden‹ ?«
Sie spürte seine leichte Belustigung und war versucht, selbst zu lächeln, aber dafür ging ihr die ganze Situation viel zu sehr an die Nieren. »Schlaf jetzt! Und noch etwas, Vikirnoff, in mir ist auch Dunkelheit. Ich kann nicht dein Licht sein. Da muss ein Irrtum vorliegen. Mir ist nur noch nicht klar, was ich dagegen unternehmen kann.«
Kapitel 5
N atalya ! Beeil dich ! Du bist schon wieder spät dran. Großvater wird böse auf dich sein. «
»Ich will ihn nicht sehen. Seine Augen machen mir Angst. «
Razvan streckte die Brust heraus, und eine kastanienbraune Haartolle fiel ihm schwungvoll über die Augen. »Ich beschütze dich. Wenn er hässlich zu dir ist, sage ich ihm, dass wir gehen. «
Natalya zog scharf den Atem ein und blieb so abrupt stehen, dass ihr seidiges Haar in alle Richtungen flog. Sie schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Razvan, er wird furchtbar böse, wenn du mich verteidigst. Ich will nicht, dass er dich bestraft. Ich weiß noch, wie gemein er zu dir war, als du so wütend auf ihn warst, weil er mich zum Weinen gebracht hatte. Du warst ganz still und wolltest mir nicht erzählen, was er mit dir gemacht hatte. «
»Ist mir egal, was er mit mir macht. Ich lasse nicht zu, dass er dir was antut. Jetzt nicht und auch sonst nie. «
»Warum kommt Vater nicht zurück? Ich mag nicht ganz allein sein. Mutter ist tot, und Vater ist weggegangen und hat uns allein gelassen, und jetzt haben wir nur noch Großvater. Ich mag ihn nicht. Du weißt, dass Vater bestimmt nicht wollen würde, dass wir bei Großvater leben. Er mochte ihn auch nicht. «
»Psst!« Razvan schaute sich rasch um. Seine Augen, die zu alt für einen Jungen seines Alters wirkten, wurden wachsam, und er legte seiner Schwester einen Arm um die Schultern. » Sag so etwas nicht. Er könnte dich hören. Er weiß immer, worüber wir reden, außer wenn wir uns im Traum treffen. Wir müssen vorsichtig sein, Natalya. Du darfst niemandem trauen. Du darfst Großvater nicht trauen und nicht mit ihm allein bleiben. Etwas Schlimmes könnte passieren. «
Natalya fuhr herum, als etwas an die Tür stieß. Als sie sich
wieder umdrehte, war Razvan verschwunden. Erschrocken lief sie die vertrauten Stufen hinunter, die zum Arbeitszimmer ihres Großvaters führten, und klopfte an die Tür. Sie war verschlossen, und niemand öffnete ihr. Natalya ließ sich auf den Boden sinken. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Razvan würde bestraft werden, weil sie nicht gehorcht hatte. Er würde den Zorn erdulden, der sich gegen sie richtete.
Durch ihr Schluchzen hindurch hörte sie die Stimme ihres Bruders. Sie schien aus weiter Ferne zu kommen. »Natalya ? Wo bist du ? Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Bin ich tot? Hast du mich getötet? Nein, nein, der Jäger hat mich umgebracht... Wo bist du, Natalya? Sag mir, wo du bist!«
Razvans flehentliche Bitte zerriss ihr das Herz. »Ich bin hier, Razvan. Im Gasthof.«
Natalya fuhr abrupt aus dem Schlaf hoch. Tränen liefen über ihr Gesicht. Ihre Beine waren von ihrer unbequemen Stellung verkrampft, und ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust. Adrenalin überschwemmte ihren Körper.
Sie und Razvan waren zehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater verschwunden war. Sie hasste es, wenn sich die Realität oder Albträume in ihre kostbaren Erinnerungen an Razvan drängten. An ihren Großvater konnte sie sich nicht erinnern. Sie konnte es sich nur so erklären, dass die Ereignisse des heutigen Tages ihn in ihre Träume gebracht hatten. Ihre Schuldgefühle lasteten schwer auf ihr. Razvan war tot, von einem gnadenlosen Jäger ermordet, und ihr Schuldbewusstsein war in ihre geliebten Träume eingedrungen und hatte sie so sehr verfremdet, dass ein schlechter Nachgeschmack in Natalyas Mund blieb und ihre inneren Alarmglocken wie verrückt schrillten.
Was hatte sie aufgeweckt? Sie spähte zu Vikirnoff. Er lag völlig regungslos da, nicht
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