Schatten Der Versuchung
mehrere Tage unterwegs sein würde, doch jetzt war sie dankbar für diesen kleinen Luxus.
Das heiße Wasser fühlte sich herrlich an, als sie sich in der Hoffnung, sich für die lange Wache aufzumuntern, unter die Dusche stellte. Sie war am ganzen Körper wund und zerschlagen, obwohl es ihr bis jetzt nicht einmal aufgefallen war. Jeder Muskel tat weh, in ihrem Kopf dröhnte es, und ihre Augen brannten stark genug, um sie daran zu erinnern, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Sie konnte überall im Haus das Murmeln von Stimmen hören, das Lachen draußen auf der Straße, das Klappern von Pferdehufen, wenn Karren vorbeifuhren, und gelegentlich das Motorengeräusch eines Autos. Sie war ein Einzelgänger, aber sie genoss die alltäglichen Laute und versuchte gewöhnlich, in den Städten und Dörfern, durch die sie kam, Freundschaften zu schließen. Für sie war es die einzige Möglichkeit, sich an eine Welt anzupassen, die nicht für jemanden wie sie bestimmt war.
Sie war zum Teil Karpatianerin. Sie besaß einige Gaben dieser Spezies, doch nicht alle. Sie hatte dieselben Nachteile wie sie, aber nicht ihre Härte. Sie gehörte nicht in ihre Welt, sie gehörte nicht zu einer Spezies, die ihren Bruder ermordet und wegen einer Frau – auch wenn es sich dabei um ihre Großmutter handelte – einen Krieg angezettelt hatte.
In ihren Adern floss das Blut der Magier. Sie entstammte einer uralten Linie, die in der Lage war, magische Fähigkeiten auszuüben, die Harmonie der Erde zu nutzen und über die Kräfte und Elemente ihrer Umgebung zu gebieten. Natalya war in diesen Künsten bewandert und konnte mächtige Zauber wirken, indem sie uralte überlieferte Formeln und ihre eigenen Einfälle vermischte und dabei erstaunliche Resultate erzielte, aber in der modernen Welt war für derartige Dinge kein Platz.
Ihre Überlegungen weckten eine flüchtige Erinnerung, vielleicht auch nur die Erinnerung an einen bösen Traum. Ich will das nicht machen. Es ist zu gefährlich. Razvan, sag ihm, was passiert, wenn ich diesen Geist beschwöre. Ich will es nicht. Er tut mir weh, Razvan. Mach, dass er aufhört! Eine schattenhafte Gestalt trat aus der Dunkelheit und ragte hoch vor ihr auf. Ihr Bruder kam zu ihr gelaufen, um ihr zu helfen. Keuchend wich Natalya zurück ...
Was ist los ? Vikirnoffs Stimme klang beunruhigt.
Natalya schloss ihre Augen. Tränen tropften von ihren Wimpern, als sie ihren Bruder vor sich sah. Er lag auf dem Boden, sein Gesicht schwoll bereits an, und aus einem Mundwinkel lief Blut. Wie immer wurde in ihrem Bewusstsein eine Tür zugeschlagen, um die Wiedergabe dieser bedrückenden Erinnerung auszuschließen.
Natalya? Soll ich zu dir kommen ? Was hat dich so aus der Fassung gebracht?
Sie lehnte sich an die Duschwand. Seine Stimme klang so besorgt und liebevoll. Sie hatte seit sehr, sehr langer Zeit weder Zuneigung noch Fürsorge erlebt. Sei nicht albern. Ich bin bloß müde. Konnte er tatsächlich so tief in ihr Inneres sehen, Orte erkennen, die so dunkel und überschattet waren, dass sie ihr selbst verschlossen blieben?
Ihr Vater Soren war halb Karpatianer, halb Magier gewesen. Seine Frau war ein Mensch gewesen, ihre geliebte Mutter Sa-mantha. Natalya kniff ihre Augen fest zu und versuchte, nicht an ihre Mutter und das, was die Vampire ihr angetan hatten, zu denken. Ihr Vater war fast verrückt geworden und hatte seine Kinder, Razvan und Natalya, verlassen, um die Mörder seiner Frau zu finden. Er war nie zurückgekehrt, und Razvan war alles gewesen, was ihr an Familie geblieben war.
Ihre Augen brannten, als sie an ihren Bruder dachte, der so liebevoll zu ihr gewesen war, so bedacht darauf, dass sie auf ihre Sicherheit achtete, und der schließlich durch die Hand eines Jägers den Tod gefunden hatte. Sie legte ihre Handfläche an die Tür der Duschkabine, als könnte sie Vikirnoff durch die Trennwand hindurch spüren. Der Jäger war am Leben, weil sie sich entschieden hatte, ihn zu retten.
Seufzend trat sie aus der Dusche und trocknete sich ab, wobei sie leicht zusammenzuckte, wenn sie ihre Quetschungen streifte. Dann ließ sie sich an die Wand sacken und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Was würde Razvan sagen, wenn er noch am Leben wäre? Würde er sie verabscheuen und sich für sie schämen? Oder würde er sie verstehen? Sie hielt sich die Ohren zu, als könnte sie so die Stimme ihres Gewissens ausschließen.
Sie konnte nicht verstehen, warum sie sich so stark zu dem Jäger hingezogen fühlte und wie sie
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