Schatten Der Versuchung
die Wunde presste und sich nach der Holzschale mit dem Rest von der Erde umschaute, die Slavica gebracht hatte.
»Du siehst zum Gotterbarmen aus«, stellte sie fest.
Du auch.
Sie senkte den Kopf und wich seinem Blick aus, während sie die Erde aufbereitete. Natalya wusste, dass sie wie Frankensteins Braut aussah. Und warum musste er so zärtlich klingen? Sie würde gleich wieder in Tränen ausbrechen, wenn er so weitermachte. Wütend zu sein war leichter. Sie wusste nicht einmal, warum zum Teufel sie eigentlich weinte, aber sie schien nicht aufhören zu können.
Warum denkst du so etwas ? Du bist sehr schön, das musst du doch wissen. Sieh dich mit meinen Augen.
Sie versuchte, das leichte Kribbeln zu unterdrücken, das seine Bemerkung in ihr hervorrief. Sie war so durcheinander, so aufgewühlt. Ihre ganze Welt stand kopf. Vikirnoff war ein Jäger und damit ihr größter Feind, aber die Frau in ihr reagierte unglaublich stark auf ihn.
Du bist böse auf mich, weil du glaubst, dass ich dir nicht genug traue, um mein Herz und meine Lungen stillstehen zu lassen. Doch so ist es nicht. Ich verlasse mich seit gut tausend Jahren auf mein Urteilsvermögen.
»Ein tolles Urteilsvermögen!« Natalya stemmte ihre Hände in die Hüften und verdrehte die Augen. »Dein Plan war zu sterben, damit das › Kleinchen ‹, das dir nebenbei mal wieder den Hintern gerettet hat, weglaufen kann! Es ist mir ein Rätsel, wie du es geschafft hast, die ganze Zeit allein zu überleben. Das ist ein wahres Wunder. «
Du hast mich nicht ausreden lassen. Ich konnte dich nicht ohne meinen Schutz zurücklassen, so wenig ich davon im Moment auch zu bieten habe. Das ist mir einfach nicht möglich. Deine ungeheuren Fähigkeiten sind nicht zu übersehen, aber ich habe noch nie gehört, dass ein Schattenkrieger besiegt worden ist. Ich konnte nicht einfach schlafen und dich einer solchen Gefahr ausliefern.
Natalya schluckte den Kloß hinunter, der ihr in der Kehle steckte. Vikirnoff klang so aufrichtig und besorgt. Er hatte an sie gedacht, obwohl er vom Sonnenlicht gefoltert worden war und man ihm eine frische Wunde zugefügt hatte. Sie gab ihm keine Antwort. Schweigend versorgte sie sein Bein und stillte die Blutung, bevor sie ihren Geist von ihrem Körper löste und ihn von innen heilte. Sie konzentrierte sich völlig auf ihre Aufgabe und war froh, nicht darüber nachdenken zu müssen, was mit dem Jäger und ihr passierte.
Als sie in ihren Körper zurückkehrte, schwankte sie vor Müdigkeit. »Besser kann ich es nicht. Schlaf jetzt, Vikirnoff. Wir haben noch ein paar Stunden bis Sonnenuntergang.«
Bevor sie sich bewegen konnte, wisperte er etwas Leises, nahezu Unhörbares in ihr Ohr. Müde und nicht auf etwas Derartiges vorbereitet, spürte Natalya, wie er ihr Bewusstsein unterwarf und sie in seinen Bann schlug. Sie wusste, dass sie einschlafen würde, als sie sich neben ihm ausstreckte, aber sie war machtlos dagegen. Das Letzte, was sie erfasste, war, wie sein Mund über die Blasen in ihrem Gesicht und an ihrem Hals strich, um die Verbrennungen zu heilen.
»Natalya, du hast gar nicht gemerkt, dass ich mir heute die Haare habe schneiden lassen. «
Natalya lachte. »Doch, hab ich. Aber weil du so eitel bist, wollte ich nichts sagen, damit du nicht noch eingebildeter wirst. Dir liegt so viel daran, ob die Frauen dir nachgucken, dass es zum Lachen ist. «
»Wenn du mir deine Bewunderung vorenthältst, muss ich sie eben woanders suchen. Der Mann, der sich mal in dich verliebt, tut mir jetzt schon leid. «
Natalya warf ihr leuchtendes Haar zurück und schnitt ihrem Bruder ein Gesicht. »Meinetwegen können sich tausend Männer in mich verlieben, ich habe jedenfalls nicht die Absicht, mich in einen von ihnen zu verlieben. Ich sehe doch, wie du bist, wenn eine Frau deinem Charme verfallen ist. Das ist nichts für mich. «
Razvan umarmte sie. »Keine Sorge, du bist und bleibst meine Lieblingsschwester. «
»Ha! Ich bin deine einzige Schwester. Ein schöner Trost.«
Razvan lachte und sprang davon wie ein junges Fohlen, das über einen kleinen Hügel setzt. »Machen wir doch ein Wettrennen nach Hause! Komm schon, Natalya, sei nicht so zimperlich. Ein bisschen schneller musst du schon laufen. «
Natalya hörte, wie Razvan aus der Ferne nach ihr rief. Sie rannte und rannte, aber sie konnte ihn nicht einholen. Seine Stimme hörte sich an, als lachte er. Sie liebte den Klang seines Lachens, doch sie ärgerte sich, weil sie nicht aufholte. Razvan
Weitere Kostenlose Bücher