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Schatten der Wahrheit

Schatten der Wahrheit

Titel: Schatten der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Delrio
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erste dieses Abends, und daneben ein Glas. Er tat sein Bestes, sich ins Vergessen zu trinken, aber das Vergessen spielte nicht mit.
    Das Weinlokal >Jasminblüte< lag am Rande Chang-Ans, weitab von den momentanen Kämpfen und noch weiter entfernt von den ausgebrannten Ruinen des Stadtzentrums. Was es in der Stadt noch an Widerstand gab, wurde von verzweifelten Zivilisten geleistet. Die einheimischen Militäreinheiten waren schon in den ersten Tagen der Kämpfe zermalmt worden, ausradiert für das Verbrechen, sich der Konföderation Capella zu widersetzen, als sie mit einem Landungsschiff eingetroffen war und Soldaten ausgeschifft hatte.
    Die Capellaner hatten das Landungsschiff doppelt, wenn nicht sogar dreifach belegt. Sie hatten Soldaten an Bord gestopft, das Zwei- bis Dreifache dessen, für das es ausgelegt war, hatten die Laderäume mit Panzerfahrzeugen, schweren Waffen und BattleMechs überladen. Ein einzelnes Landungsschiff dieser Klasse war nicht für den Transport solcher Massen an Menschen und Material vorgesehen. Es hätte nicht mehr ausschiffen dürfen, als die örtlichen Verteidiger Chang-Ans leicht hätten besiegen können.
    Er hatte die Zahlen sorgfältig durchgearbeitet - er besaß Talent für Übungen dieser Art -, bevor er auch nur in Betracht gezogen hatte, die Capellaner könnten lügen oder ein Landungsschiff einem solchen Risiko aussetzen.
    Das war der erste Verrat gewesen.
    Nein, dachte er. Sei wenigstens dir selbst gegenüber ehrlich. Es war der zweite.
    Er schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Seine Hände zitterten so, dass er die Flasche auf den Rand des Glases stützen musste. Es gelang ihm, das Zittern so weit zu unterdrücken, dass er das Weinglas heben und leeren konnte, ohne etwas zu verschütten. Es war ein schwerer Rotwein von der trockenen, gemäßigten Küste, herb und bitter. Das Aroma umnebelte seinen Kopf. Aber es konnte den Brandgeruch weder aus seiner Nase vertreiben noch aus seiner Erinnerung.
    Chang-Ans Gesundheitsbehörde hatte Massengräber für die unzähligen Toten ausheben lassen. Die Fahrer von Baumaschinen und ArbeitsMechs hatten ihr Leben riskiert, um abseits der Kämpfe den Boden aufzureißen und die Leichen reihenweise unter die Erde zu legen, wie Saatgut für eine obszöne zukünftige Ernte. Er selbst hatte die Leichen seiner Eltern dorthin gebracht und beigesetzt. Es gab keine ande-ren lebenden Freunde oder Familienmitglieder mehr, die es ihm hätten abnehmen können. Und dann hatten die Bulldozer die Gräber wieder zugeschüttet.
    Das war die erste Nacht gewesen, in der er versucht hatte sich zu betrinken. Doch er hatte es nicht geschafft.
    Heute waren noch drei Landungsschiffe auf dem Raumhafen eingetroffen. Neue Soldaten waren aus den Schiffen in die Stadt und die Umgebung geströmt. Er hatte sie gesehen, war zurückgegangen und hatte aus den Schatten zugesehen. Er hatte auch Transportflugzeuge und schwere Ausrüstung gesehen. Saxon- und Maxim-Mk2-Truppentransporter, sogar ein Taktisches Mobiles HQ. Das war Ausrüstung für längere Feldeinsätze, nicht für den Straßenkampf.
    Und es war auch keine Ausrüstung für einen schnellen Überfall. Das war Invasionsausrüstung. Er kannte die Theorie, er hatte sie studiert. Er hatte als Bester der Klasse abgeschlossen. Doch er hatte die Theorie bis zu diesem Tag nie umgesetzt gesehen.
    Ein weiterer Verrat.
    Ein Schiff, und nur ein Schiff. Das war die Absprache gewesen. Er kannte die Entfernungen und die Zeit, die ein Flug von und zu den Sprungpunkten benötigte. Zusätzliche Schiffe hätten unmöglich so schnell eintreffen können, nicht einmal als Antwort auf eine HPG-Nachricht höchster Priorität. Die neuen Schiffe mussten sich auf den Weg gemacht haben, noch bevor das erste Schiff aufgesetzt hatte.
    Wieder vergrub er das Gesicht in den Händen. Die Capellaner hatten ihn von Anfang an belogen und er hatte ihnen ihre Lügen abgenommen. Aller Wein in Chang-An konnte das nicht ändern. Möglicherweise reichte nicht einmal der gesamte Wein auf Liao dazu.
    Der Tisch bewegte sich unter seinen Ellbogen, und die Bank auf der gegenüberliegenden Seite knirschte, als sich jemand unaufgefordert setzte. Unwillig hob er den Kopf und sah einen schlanken lächelnden Mann mit nicht weiter bemerkenswerten Zügen, der eine capellanische Uniform trug. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war der Mann wie ein Zivilist gekleidet gewesen.
    »Sie sind zu einem sehr schwer aufzuspürenden jungen Mann geworden, Lieutenant

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