Schatten Des Dschungels
Gesetzlichen, weil mir bei unserem Umzug ein Schrankteil auf den Zeh gefallen war. Nicht lustig da. Wir mussten die halbe Nacht warten, obwohl ich blutete wie verrückt, und wurden dann von einem überforderten Assistenzarzt behandelt. Selbst den Faden, mit dem mein Zeh genäht wurde, mussten wir zusätzlich bezahlen. Bar natürlich.
Ich stütze Andy, obwohl er murmelt, dass er das nicht braucht, und schließlich sind wir da. Schockiert blicken wir uns um. Im ganzen Warteraum drängen sich Menschen, sämtliche Stühle sind besetzt. Manche Leute liegen sogar auf dem Boden und haben notdürftig eine Jacke über sich gebreitet. Pfleger mit Handschuhen und OP-Masken eilen umher. Es riecht zwar immer noch nach Desinfektionsmittel, aber auch nach Krankheit, ein fauliger Dunst, der mich an unseren Küchenmüll-Komposthaufen erinnert und an Lindy am letzten Tag vor meiner Flucht. Mir wird fast übel von diesem Geruch.
Eine Krankenschwester bewegt sich systematisch von einem Patienten zum nächsten, ein Pad in der Hand. »Haben Sie Rötungen im Rachenbereich? Juckreiz? Schwarze Flecken auf den Schleimhäuten? Schluckbeschwerden? Ein allgemeines Schwächegefühl?«
Der junge Mann, der gerade vor uns angekommen ist, nickt und krächzt: »Es hat heute früh angefangen. Erst dachte ich noch, es geht vielleicht wieder weg, hab gegurgelt, was das Zeug hält, und so weiter … aber dann …«
Die Schwester leuchtet ihm kurz in den Rachen, nickt und sagt: »Wir haben eine Isolierstation eingerichtet für alle Patienten mit Verdacht auf TIN. Bitte hier entlang.«
Auch ein paar Kinder sehe ich; eins weint leise vor sich hin, ein anderes bettelt seine Mutter an, sie solle ihm etwas zu trinken geben. Sämtliche Wasserspender im Raum sind längst leer, ebenso wie die Snackautomaten.
Eins der Kinder schluckt schwer, ich sehe auf einen Blick, was mit ihm los ist. Ich wende den Blick ab, kann nicht mehr hinschauen. Das ist Falks Schuld, meine Schuld, unsere Schuld. Wie entsetzlich, dass wegen uns Kinder leiden müssen. Am liebsten würde ich wegrennen von diesem grauenvollen Ort, aber das geht nicht, ich muss jetzt bei Andy bleiben.
Wir lassen uns so weit wie möglich von den anderen Kranken entfernt auf dem Boden nieder – Stühle sind keine frei – und warten ab. Doch nach etwa einer halben Stunde wird uns klar, dass niemand hier sich in nächster Zeit für Andys Schusswunde interessieren wird. Immer mehr Kranke treffen ein, werden befragt und weitergeschleust in die Isolierstation. Ein paar schwere Fälle werden sogar gleich im Wartezimmer behandelt. Und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es erst in der Notaufnahme der Gesetzlichen aussieht.
»Hat keinen Sinn«, sagt Andy schließlich erschöpft.
»Aber das darf doch echt nicht wahr sein!« Ich stehe auf, gehe auf einen jungen Arzt zu, der gerade den Raum durchquert, und trete ihm einfach in den Weg. »Mein Freund ist verletzt, er hat schon eine Menge Blut verloren! Wann kommt er denn endlich dran?«
Aber auch der Arzt schüttelt nur bedauernd den Kopf. »Sie sehen ja, was hier los ist. Wir tun unser Bestes.«
»Können Sie uns wenigstens Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel geben? Eine Kompresse oder so?«
»Tut mir leid, das wäre gegen die Vorschriften und könnte uns den Versicherungsschutz kosten«, kommt es zurück. »Ihr Freund ist sicher bald an der Reihe und dann wird einer unserer Mitarbeiter …«
Aber ich habe mich schon wütend umgedreht.
»Es war sowieso keine gute Idee herzukommen«, meint Andy, dessen Augen nicht mehr ganz so glasig wirken. »Hier ist gerade der gefährlichste Ort Münchens – wenn man sich irgendwo anstecken kann, dann hier.« Er lässt den Blick über all die Kranken gleiten.
»Stimmt«, muss ich zugeben und fühle mich todesmüde und verzweifelt.
Immerhin, Andys Verletzung scheint nicht mehr zu bluten. »War wohl nur ein Streifschuss, ich hab noch nicht nachgeschaut.« Ein verzerrtes Grinsen. Mir fällt keine Antwort ein. Glück gehabt? Nein, mir ist nicht danach, so was zu sagen.
Auf dem Weg zum Ausgang kommen wir an einem Behandlungzimmer vorbei, das gerade leer steht. Blitzschnell gehe ich hinein, raffe ein paar Sachen zusammen und schiebe sie in meine Jackentaschen. Andy ist so verblüfft, dass er mich nur sprachlos anblickt. Bevor uns jemand aufhalten kann, biegen wir um eine Ecke und ich schiebe Andy in die Damentoilette. Über dem Waschbecken schneide ich den Ärmel seines Langarm-T-Shirts weg, dann versuche ich
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