Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Stalin, Mao, Pol Pot, von denen gab es und gibt es die kleinen Ausgaben, die nur noch lächerlich sind, aber in einer bestimmten Konstellation gefährlich sein können wie andere Fanatiker auch. Wir waren eine Spezies von Verrückten, die sich eine eigene Wirklichkeit gebaut hatten.«
Sie staunte. So einen Ausbruch war sie nicht gewöhnt von ihm. »Solltest du das erst durch deine Recherchen gelernt haben, dann haben die Eskapaden sich fast gelohnt. Wenn auch in anderer Hinsicht, als du es dir gewünscht hattest.«
»Nein, ich bin inzwischen zufrieden mit dem, was ich gefunden habe. Am Anfang war ich enttäuscht, aber nun habe ich begriffen, dass es weniger um diesen Mord, der eigentlich keiner ist, geht als vielmehr um das, was wir damals waren, was wir uns damals eingebildet haben.«
»Ein besserer Mensch, welch Ehre, ich sitze einem besseren Menschen gegenüber. Ich hoffe, ich darf dich weiter duzen.«
»Ich denke darüber nach, versprochen.«
»Und was ist mit Ossi?«
»Der hat sich selbst umgebracht. An den Gedanken muss ich mich zwar gewöhnen, aber Ockhams Rasiermesser lässt mir keine Wahl.«
»Wenn die Polizei es sagt, die Rechtsmedizin, und wenn sogar die Freundin daran glaubt, wie hieß sie nochmal?«
Stachelmann spürte, wie ihm heiß wurde im Kopf. Bestimmt lief er rot an. »Carmen«, sagte er.
Sie prüfte ihn mit einem langen Blick, sagte aber nichts. Dann: »Also, wenn Carmen nun ebenfalls überzeugt ist, dann ist die Sache erledigt.«
»Gewiss«, sagte Stachelmann.
»Und die Toten in Heidelberg, die Archivtante, der Penner?«
»Menschen sterben eben, es war alles Zufall. Adi war überfällig, so, wie der soff. Er hatte einen großen Abgang, seinen Auftritt im Palme hättest du erleben sollen. Und Unfälle passieren. Es ist ein Zufall gewesen, und nur meine Angst hat es zusammengefügt, die Männer, die mich aus Spaß verprügelt haben, und die Todesfälle. Das Hirn neigt dazu, Ereignisse miteinander zu verflechten, wenn sie zueinander zu passen scheinen.«
»Du hast dich also selbst ins Bockshorn gejagt?«
»Genau, ich habe mich selbst reingelegt. Aber immerhin habe ich dabei etwas herausgefunden, das ich sonst nie herausgefunden hätte.«
»Das könnte man Kollateralnutzen nennen.«
Stachelmann grinste.
»Und die Habil?«
»Ich schaffe es, jetzt, wo ich die anderen Geschichten erledigt habe.«
Sie schob ihre Hand über den Tisch, und er ergriff sie. »Du wirst ja nicht vierundzwanzig Stunden am Tag daran arbeiten.«
»Nein, nicht einmal heute Nacht.«
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17
Er war prächtig gelaunt, als er am Morgen in seinem Dienstzimmer saß. Seite um Seite arbeitete er ab. Am Abend wollte er wieder zu Anne gehen, und es störte ihn nicht einmal, dass Felix da sein würde. Er schaute aus dem Fenster, es nieselte, der Himmel war bedeckt, der Westwind trieb graublaue Wolken vor sich her. Aber weil er glücklich war, war es schönes Wetter. Nicht einmal die Aussicht auf das Gespräch mit Carmen trübte seine Laune. Er hatte sich verrannt, Enttäuschung, Ärger, Mitleid und die Ungewissheit wegen Ossis Tod hatten ihn dazu gebracht, sich auf die Beziehung mit Carmen einzulassen. Red dich nicht raus. Du warst immer Herr deines Willens. Aber statt darüber zu grübeln, statt sich zu tadeln, weil er Carmen diesen Tort antun würde, pfiff er die Melodie eines Liedes vor sich hin, an dessen Titel und Text er sich nicht erinnerte.
Mittags aß er ein Baguette in der Cafeteria. Außer ihm saß in einer Ecke nur eine Gruppe von Studentinnen, die miteinander lachten. Er dachte an die Wohnung in Riparbello, an Köhler und Zastrow, der vielleicht schon tot war und der sich ein solches Ende verdient hatte. Der Einzige, der Mitleid verdiente, war Lehmann, aber der war schon so lange tot, dass man nicht mehr trauern konnte.
Am Nachmittag rief er Carmen an. Morgen werde er sie besuchen, wenn sie einverstanden sei. Sie hatte Zeit für ihn, aber sie klang matt, und für ihn hörte sie sich an wie: Das muss wohl sein. Vielleicht begann sie erst jetzt zu trauern, wo ihr Alltagsleben wieder begann und sie den Verlust wirklich empfand. Und jetzt würde er ihr auch noch wehtun. Allerdings, vielleicht war es ihr recht. Alles hat seine Zeit.
Wie war es bei ihm? Spürte er den Verlust? Nicht, oder noch nicht. Vielleicht nie. Er hatte Ossi ja auch nicht vermisst, als der noch lebte und sie sich jahrelang nicht getroffen hatten. Und als sie sich getroffen hatten, war Stachelmann nicht erpicht gewesen auf eine
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