Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
wohne jetzt manchmal bei Angelika. Zu mir will sie nicht. Keine Ahnung, warum. Aber das ist ja auch egal. Sie ist eine tolle Frau, in jeder Hinsicht. Vor allem versteht sie zunehmend mehr, warum wir das tun müssen, was wir tun. Sie hat Verständnis dafür, dass Verräter liquidiert werden müssen. Irgendwie jedenfalls. Aber sie würde es nicht können. Und sie würde mit einem nicht zusammen sein wollen, der es getan hat. Die bürgerliche Moral sitzt bei ihr noch zu tief. Ich werde es ihr nie erzählen dürfen.
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In der Nacht konnte er kaum schlafen. Immer wieder wachte er auf, und dann überfielen ihn Gedanken. Der Zusammenhang zwischen Ossis Tod und der Akte auf seinem Schreibtisch, dem Thingstättenmord, dem Überfall auf ihn, da war vielleicht etwas dran. Oder nicht? Er konnte sich ja tagsüber ein bisschen umsehen, als Zeitvertreib gewissermaßen, und sich abends an seine Habilarbeit setzen. Das würde ihn ablenken. Und überhaupt, Ossis Tod hatte die Erinnerung an die Heidelberger Zeit wieder aufleben lassen. Es war einem Historiker gemäß, wenn einen die Erinnerung in ein Archiv führte. Dort könnte er prüfen, wie weit die Erinnerung die Tatsachen verändert hatte. Er kannte es von Zeitzeugenbefragungen. Da waren die Lücken oft größer als das, was erinnert wurde. Die Erinnerung des Menschen ist tückisch, sie verzerrt, ohne dass man es merkt. Und man stellt sich selbst in den Mittelpunkt, wo man doch in Wahrheit nie war. Schon der Ichbezug verfälscht, dazu kommen die weißen Flecken, auch weil das Bewusstsein verdrängt. Wer ist der Hauptfeind des Historikers? Der Zeitzeuge.
Die Morgendämmerung färbte das Zimmer erst grau, dann weißgelb. Es würde ein heißer Tag werden. Regine hatte von dem Archiv der Universität in der Akademiestraße gesprochen. Einfach über die Brücke laufen, zwischen Hauptstraße und Plöck lag die Akademiestraße. Vielleicht sollte er dort mal vorbeischauen. Er konnte ja jederzeit wieder gehen. Vielleicht musste man sich anmelden, und es gab eine Wartezeit, dann wollte das Schicksal nicht, dass er dieser Geschichte auf den Grund ging. Überhaupt, den Thingstättenmord aufklären, nachdem die Polizei gescheitert war, das war Anmaßung. Doch es kostete ihn nichts, und er war Ossi diesen Versuch schuldig. So dachte er, aber dann fragte er sich, warum er solch einen Unsinn dachte. Er war Ossi nichts schuldig. Wenn man einem Menschen etwas schuldet, dann muss man das zu dessen Lebzeiten abtragen. Gib zu, es ist deine Neugier. Die Neugier, die dich schon oft auf den Holzweg geführt und sogar in zwei Verbrechen verwickelt hat. Nun, diesmal ging es zwar auch um ein Verbrechen, aber er würde nichts herausfinden, was andere nicht schon herausgefunden hatten. Das Archiv also, und dann noch ein Zeitungsarchiv, das der Rhein-Neckar-Zeitung etwa, die damals viel berichtet hatte über die Nach wehen der Revolte. Wenn er durchgesehen hätte, was dort lag, konnte er den Fall abhaken, und niemand könnte behaupten, er habe nicht mehr getan, als jeder andere getan hätte. Ein gutes Gewissen macht das Leben leichter.
Obwohl er müde war, stieg seine Laune. Sogar der Überfall auf ihn verblasste, die Angst lauerte, das spürte er, aber sie beherrschte ihn nicht. Im Augenblick jedenfalls. Er betrachtete im Spiegel sein Gesicht und fand, es sehe besser aus, als er erwartet hatte.
Er frühstückte ausgiebig und lief dann gemächlich Richtung Innenstadt. Die Angst packte ihn in Wellen. Er blieb stehen, schaute sich um, redete auf sich ein, es sei unwahrscheinlich, dass er wieder überfallen würde. Schon gar nicht am Tag. Dieses Argument beruhigte ihn ein wenig. Es würde heiß und schwül werden, wie so oft im Sommer in Heidelberg. Über dem Neckar zog kaum merklich Dunst auf. Er lehnte sich aufs Brückengeländer und schaute den Fluss hinab. Auf der Uferwiese Spaziergänger mit Hunden, weit hinten schmuste ein Pärchen auf einer Decke. Stachelmann ging weiter, betrachtete das Gewimmel auf dem Bismarckplatz und bog in die Hauptstraße ein. Früher bimmelten hier Straßenbahnen, um sich den Weg freizumachen, und es fuhren Autos auf der schmalen Straße, mancher Fußgänger rettete sich mit einem Sprung auf den Bürgersteig. Großes Gedränge, wenn Touristen – »Europe in seven days« – die Stadt überschwemmten.
Inzwischen gehörte die Hauptstraße nur noch den Fußgängern. Es wurde voller, die ersten Touristenbusse schienen angekommen zu sein. In der Akademiestraße
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