Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
erwartete ihn eine Enttäuschung. Dienstags war das Archiv erst ab vierzehn Uhr geöffnet. Dann eben nicht, dachte er. Auf dem Hinweg war er am Gebäude der Rhein-Neckar-Zeitung vorbeigekommen, dorthin ging er nun zurück. Manche Passanten schauten ihm neugierig ins Gesicht. Er öffnete die Tür und trat vor den Schalter, wo gewöhnlich Anzeigen aufgenommen wurden. Stachelmann fragte nach dem Bildarchiv. »Das verwaltet bei uns die Sekretärin der Lokalredaktion, die Frau Brettschneider«, sagte eine ältliche Frau mit einer Brille, deren Gläser nach außen spitz zuliefen. Sie musterte ihn streng, wies ihm aber dann den Weg zur Lokalredaktion. Frau Brettschneider entpuppte sich als kleine, drahtige Frau mittleren Alters. Sie betrachtete Stachelmann, während der seine Bitte vortrug, Bilder aus den siebziger Jahren, vor allem 1976 bis sehen zu dürfen. »Demonstrationen, Boykotte, Sie wissen ja, wie das war«, sagte Stachelmann. »Und mein Gesicht, entschuldigen Sie mein Aussehen. Ich wurde überfallen.«
»Ich weiß nicht, wie es war«, sagte Frau Brettschneider. »Da war ich nämlich noch nicht hier. Aber meine Phantasie reicht aus, es mir vorzustellen.«
Sie saß zusammen mit einer jungen Frau in einem engen Büro. Die junge Frau tippte auf einer Tastatur und schien sich für anderes nicht zu interessieren. Im Nachbarzimmer hörte Stachelmann jemanden lachen.
»Und warum wollen Sie die Fotos sehen?«
»Ich sitze an einer Arbeit über die Studentenbewegung, ich bin Historiker. Dr. Stachelmann, Universität Hamburg.«
Sie musterte ihn wieder. Ihr Blick schien zu sagen: So sehen also Historiker aus.
»Wann?«
»Jetzt, wenn es möglich ist«, sagte Stachelmann.
Frau Brettschneider seufzte leise, überlegte kurz, dann sagte sie: »Es kommt ja auch nicht mehr drauf an.« Sie öffnete eine Schublade und holte einen Schlüsselbund heraus.
Stachelmann verstand nicht, was sie meinte, aber er fragte nicht.
»Dann kommen Sie mal mit.« Sie führte ihn Treppen hinunter, benutzte den Aufzug nicht, obwohl dessen Tür offen gestanden hatte. Sie lief schnell, Stachelmann kam kaum mit. Im Kellergeschoss schaltete Frau Brettschneider das Licht ein, ihre Schritte hallten. Sie schloss eine Tür auf und sagte: »Setzen Sie sich dorthin.« Sie zeigte auf einen Tisch und einen Stuhl in einem kargen Raum, in dem an allen Wänden Stahlregale standen, darin Aktenordner und Pappschachteln unterschiedlicher Größe. Dann drehte sie ihm den Rücken zu und widmete sich den Aufschriften der Schachteln. Manche zog sie heraus, immer mehr Staub wirbelte im Zimmer. Stachelmann nieste. Frau Brettschneider schien es nicht zu bemerken, sie murmelte hin und wieder etwas, bis sie eine Schachtel herausnahm und auf den Tisch stellte. »Das ist, so weit ich es überblicke, alles, was wir aus dieser Zeit haben. Es ist wahrscheinlich überflüssig, aber ich muss Sie trotzdem darauf hinweisen, hier dürfen Sie nichts mitnehmen oder kopieren, also etwa abfotografieren« – ihr Blick blieb an Stachelmanns Aktentasche hängen – »ohne Genehmigung. Und wenn Sie mit Genehmigung etwas kopieren, dann dürfen Sie es nur mit Urheberangabe veröffentlichen. Diese Angabe finden Sie wie die Bildbeschreibung jeweils auf der Rückseite oder auf angeklebten Zetteln. Viel Erfolg«, sagte sie und verschwand. Als sie die Tür schloss, wirbelte der Luftzug den Staub erneut auf.
Stachelmann öffnete den Karton und wischte gleich seine Finger an der Hose ab. Der Deckel klebte vor Staub. In der Schachtel standen Fotos hintereinander wie Karteikarten. Er blätterte schnell mit den Fingern, es waren fast nur Schwarzweißfotos, die meisten aber schienen von guter Qualität zu sein. Dann begann er die Fotos eines nach dem anderen anzuschauen. Demonstration durch die Hauptstraße. Sitzblockaden behindern eine Straßenbahn am Bismarckplatz. Flugblattaktion an der Marstallmensa, rote Transparente fordern die »Freilassung der politischen Gefangenen«. Er drehte das Foto um: Es stammte vom 3. März , also nach den Selbstmorden der Stammheimer RAF-Gefangenen. Stachelmann schüttelte den Kopf: Leute, die andere Leute ermordet hatten, sollten politische Gefangene sein. Es war kein Tyrannenmord, keine Notwehr oder was man sich sonst noch vorstellen konnte als Rechtfertigung. Es war einfach Mord. Wie hast du das damals gesehen? Genauso wie heute, dachte er. Er erinnerte sich einer Diskussion in einem Geschichtsseminar, wo er diesen Standpunkt vertreten hatte und wütend
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