Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Freund.«
»Ich weiß nicht«, sagte der im Unterhemd.
»Aber ich«, sagte der mit dem Schnaps. »Der findet den Adi sowieso. Wenn wir's ihm sagen, kriegen wir was, und er findet Adi. Wenn wir es ihm nicht sagen, kriegen wir nichts, und er findet Adi auch.«
Der im Unterhemd sah seinen Kumpel bewundernd an. »Dagegen kann man nichts sagen, wirklich nicht. Nicht mal Adi könnte dagegen was sagen.«
Der mit dem Schnaps sagte: »Rohrbacher Str. 33.«
»Da finde ich Adi wirklich?«, fragte Stachelmann.
»Ich schwöre es!«, sagte der mit dem Schnaps. »Beim Leben meiner Mutter!«
»Gestern hast du gesagt, die wär tot«, sagte der mit dem Unterhemd.
»Quatsch«, sagte der mit dem Schnaps. »Wenn sie tot wär, würde sie ja nicht mehr leben.«
»Stimmt«, sagte der mit dem Unterhemd. »Dann ist vielleicht meine Mutter tot.«
»Du hast nie eine Mutter gehabt«, sagte der mit dem Schnaps.
Stachelmann gab den beiden einen Zehn-Euro-Schein. Der mit dem Schnaps steckte das Geld in seine Hosentasche, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fand er es zu wenig.
Stachelmann lief zum Bismarckplatz und nahm eine Straßenbahn Richtung Leimen. Er mühte sich, die Hausnummern abzulesen. Als die Bahn die Nummer 20 erreichte, stieg er aus. Er ging auf die linke Straßenseite, wo die ungeraden Nummern waren. Dann stand er da, wo die Nummer 33 sein musste, es war der Bergfriedhof.
* * *
24. Dezember 1978
Weihnachten ist zum Kotzen. Alle werden rührselig und machen plötzlich auf Familie. Auch Angelika ist zu ihren Eltern gefahren. Das ganze Jahr schimpft sie über diese Spießer, aber Heiligabend gilt das nicht mehr.
Es ist sowieso fast alles anders, als es sein sollte. An der Uni war es ruhig, nichts mehr ist es mit Revolte. Es wird brav studiert, sind die Bedingungen auch noch so mies. Wir dürfen uns nichts vormachen, mit der revolutionären Bewegung geht es aufwärts und abwärts wie mit dem Krisenzyklus des Kapitals. Und wir sind zurzeit im Tal. Sogar in der Gruppe werden es weniger. Die Genossen kommen nicht mehr so regelmäßig, und Ideen für Aktionen hat keiner mehr. Mal ein Flugblatt, mehr ist nicht.
Vielleicht hat manchen mein Bericht vom Bullenbesuch erschreckt, obwohl sie sonst tun, als würden sie sich das Hemd aufreißen und in den Kugelhagel stürzen.
Ich gebe zu, zurzeit weiß auch ich nicht, wie es weitergehen soll. Natürlich gehe ich auf die Sitzungen und verteile Flugblätter. Ansagen in Seminaren gibt es nicht mehr oft. Die meisten Lehrkräfte verbieten sie und setzen es durch. Seit so viele Studenten wegen »Diskussionsverlangens« relegiert und in Strafprozessen verknackt wurden, traut sich kaum einer mehr, das Maul aufzumachen.
Am stärksten merkt man das bei den Germanisten. Die Lehrkräfte mussten mitmachen bei der Kampagne der Rechten, und jetzt sehen sie, was sie angerichtet haben. Manche haben vor Gericht plötzlich Erinnerungslücken gehabt, das war aber auch alles, was sie dagegen taten. Heidelberg ist ein Friedhof.
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11
Er fluchte vor sich hin. Eine alte Frau, die an ihm vorbeiging, erschrak und eilte weiter. Dann betrat er den Friedhof, er kannte ihn von früher. Hier war der erste Reichspräsident Friedrich Ebert begraben, und es gab ein Mahnmal für Naziopfer, vor dem alljährlich eine Kundgebung stattfand. Er hatte einige Male daran teilgenommen und daraus die Gewissheit gezogen, auf der richtigen Seite zu stehen.
Er ging zum Krematorium. Vor der Eingangstür stand ein Mann und rauchte.
»Ich habe eine komische Frage«, sagte Stachelmann, nachdem er den Mann gegrüßt hatte.
Der antwortete nicht, sondern schaute Stachelmann neugierig an.
»Wenn Leute ohne Wohnsitz sterben, wo werden die beerdigt?«
»Da hinten.« Er zeigte in eine Richtung.
»Steht der Name auf dem Grabstein?«
»Grabstein? Die kriegen keinen Grabstein. Die werden verbrannt und verscharrt.«
Stachelmann stand lange vor dem Krematorium, während der Mann sich noch eine Zigarette ansteckte und weiterging. Stachelmann versuchte sich an Adi zu erinnern. Wie er mitgeschlurft war auf den Demos, meist betrunken. Wie er herumgebrüllt und so getan hatte, als würde er gleich über einen Polizisten herfallen. Aber die meisten von denen kannten Adi auch schon und wussten, es war nur Theater. Adi wollte dazugehören, und niemand verwehrte es ihm. Und nun war er tot.
Stachelmann war wütend auf die Penner, die ihn veralbert hatten. Aber dann kam ihm ein Verdacht. Es hätte ihm früher auffallen müssen. Er
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