Schatten eines Gottes (German Edition)
mehr Wasser geholt. Die Wirtschaftsgebäude standen noch, aber ihre Holzdächer waren eingesunken, teilweise fehlten die Türen. Überall hatte die Natur sich ihr Recht zurückgeholt. In den Räumen wuchsen Disteln, Goldrute und Beifuß. Auf den Ziegeln des Herrenhauses wuchs armdick das Moos, die Balken des Fachwerks waren geschwärzt wie von einem Brand, die Wände an einigen Stellen eingefallen. Hier wohnte niemand mehr. Aber eine vielköpfige Räuberbande konnte hier durchaus Unterschlupf gefunden haben.
Emanuel und Octavien ließen die Pferde im Burghof zurück, wo sie genügend Gras und Kräuter fanden, und streiften durch die gesamte Anlage. Sie schauten hinter jede Mauer und schritten den Wehrgang ab, von wo sie weit ins Tal blicken konnten. Ihr Rundgang ergab nichts Verdächtiges.
Sie ruhten am Brunnen. Von diesem Platz aus hatten sie sowohl das ehemalige Burgtor als auch den Eingang zum Bergfried im Auge. Den Bergfried, der allein noch wehrhaft schien, und unter dessen Mauern das Pergament verborgen sein sollte. Seine Besichtigung wollten sie sich für den Schluss aufheben. Stumm verzehrten sie ein karges Mahl. Um sie herum herrschte jene Stille, wie sie nur einer menschenleeren Umgebung zueigen ist. Das Summen und Zirpen der Insekten, das Rascheln der Mäuse im Gras, der Gesang der Vögel, der Wind, der sich in Mauernischen fing, das alles bildete eine harmonische Geräuschkulisse, die die Stille noch zu verstärken schien. Diese Burgruine hatte nichts Unheimliches. Sie war eine Oase der Ruhe und des Friedens.
Die Tür des Bergfrieds war mit einer rostigen Kette verschlossen, doch ein derber Griff Octaviens genügte, um ihre Verankerung aus dem morschen Holz zu reißen und sie zum Einstürzen zu bringen. Kalter, modriger Hauch wehte ihn an. Schwarze Spinnen flohen vor dem Licht ins Dunkel. Octavien, das Schwert gezückt, steckte seinen Kopf in die Öffnung und spähte umher. Bevor er seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnte, tippte ihm Emanuel auf die Schulter. Er hatte etwas entdeckt. An der Westseite befand sich ein kreisrunder Flecken nackter Erde. Dort wuchs kein Gras, nicht einmal Unkraut, was sich gewöhnlich in jedem Spalt ansiedelte. Auch die Form sprach dafür, dass dieser Flecken nicht natürlichen Ursprungs war. Hier hatte jemand sorgfältig jeden Bewuchs entfernt und dafür gesorgt, dass die Kreisform erhalten blieb. Da sich Unkrautsamen schnell aussäen und keimen, musste das erst vor kurzer Zeit geschehen sein. Octavien hatte den gleichen Gedanken.
»Es muss jemand hier sein, der die Stelle von Unkraut frei hält.«
Unwillkürlich hatte Octavien seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Ich schlage vor, Ihr untersucht die Sache, ich gebe solange acht.«
Emanuel nickte. Innerhalb des Kreises fand er zwei halb im Erdboden eingesunkene Steinplatten, die ihn sofort an Grabplatten erinnerten. Waren das Gräber? Aber wer pflegte sie und warum? Emanuel bückte sich und kratzte den Schmutz von den Steinen. Zwei Namen erschienen: Gudfried und Gundomar. Sie kamen Emanuel bekannt vor. Wo hatte er sie schon einmal gehört? Er konnte sich nicht erinnern, dabei hatte er das Gefühl, dass sie unmittelbar etwas mit dem zu tun hatten, wonach er suchte. Von Neugier getrieben, entfernte er mithilfe seiner Tunika weiteren Schmutz von den Platten. Octavien kam näher. »Habt Ihr etwas entdeckt?«
»Ja. Hier sind offensichtlich zwei Männer begraben.«
Octavien ging in die Hocke. »Gudfried und Gundomar«, las er. Dann stieß er einen überraschten Laut aus. »Beim Barte Abrahams! Das sind sie! Wir haben es!«
»Würdet Ihr Euch bitte etwas deutlicher ausdrücken?«
»Das sind Eure Brüder im Geiste, Emanuel. Zisterziensermönche! Und später Tempelritter. Die beiden Mönche waren bei den Ausgrabungen dabei. Sie haben Hugo de Payens begleitet. Sie gehörten zu den neun Gründungsmitgliedern!«
»Heilige Madonna! Jetzt fällt es mir ein, woher ich ihre Namen kenne.«
»Ganz recht. Hier haben sie ihre letzte Ruhestätte gefunden«, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihnen.
Emanuel und Octavien fuhren herum. Da stand ein Mann mittleren Alters in einem mönchsähnlichen Gewand, die Hände über dem Gürtel gefaltet.
Octavien ließ das gezückte Schwert sinken. »Du hast uns erschreckt, alter Mann.«
»Vergebt mir, das war nicht meine Absicht.«
»Wer bist du?«
»Ich bin Rodnik, der Wächter der Burg.«
Die scharf geschnittenen Züge und der eindringliche Blick aus tief liegenden schwarzen
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