Schatten eines Gottes (German Edition)
Verheißung. Sie schauten und schauten und konnten sich doch nicht sattsehen. All ihre Mühen hatten sich gelohnt. Endlich waren sie angekommen.
Ihre froststarren Hände umklammerten einander. Sie fühlten sich warm an, als stünden sie vor einem Ofen. Ihre Gesichter glühten. »Damien«, flüsterte Daniel, »schon morgen werden wir durch die himmlischen Tore schreiten. Ich höre sie bereits singen, die Engel. Sie empfangen uns mit Musik. Ganz Jerusalem wird morgen auf den Beinen sein. Sie werden uns mit Honigbrot und süßem Wein empfangen.«
»Ja«, wisperte Damien, »und niemand wird uns auf der Straße ausweichen. Sie werden uns mögen und mit uns feiern. Aber jetzt, Daniel, jetzt wollen wir noch ein bisschen schlafen. Ich bin so müde. Morgen sehen wir uns wieder in Jerusalem.«
»Ja, morgen«, sagte Daniel, und sie legten sich in den Schnee und schliefen ein. In der Nacht aber breitete ein Engel eine dichte Decke von leuchtendem Schnee über sie.
Ein geheimnisvoller Spielmann
Herbststürme rissen welke Blätter von den Bäumen, erste Vorboten des drohenden Winters, der Dunkelheit und der feuchtkalten Mauern. Die Stimmung auf Burg Lichtenfels war gedrückt, Langeweile machte sich breit, die Schildknappen würfelten lustlos, die älteren Kämpen sprachen saurem Wein zu und suchten Händel. Graf Rüdiger, der Burgherr, hatte vom letzten Scharmützel mit einem Nachbarn eine Verwundung erlitten, die noch nicht ganz verheilt war und die ihn hinderte, auf die Jagd zu gehen. Abend für Abend saß er mit den adligen Gefolgsleuten im Männersaal, ließ den Humpen kreisen, schimpfte auf die Heiden in Jerusalem, sprach von Eroberungen, von Landgewinn und neuen Frauen. Und seine Männer berauschten sich mit Bier und Wein und am Schwingen kühner Reden, die ihre selten vollbrachten, aber bestimmt noch zu vollbringenden Taten untermauern sollten.
An diesem Abend saß der Graf am Kamin und starrte in die Flammen. Ihm gegenüber, am anderen Ende des Raumes, saß Rüdigers zweite Ehefrau Mathilde und stickte mit sauertöpfischer Miene einen Wandteppich: ›Maria im Rosengarten‹. Sie trug ein hochgeschlossenes dunkelblaues Gewand, das ihre knochige Figur und ihr blasses Gesicht noch betonte.
Rüdiger hatte die Hochzeitsnacht nicht mit ihr vollzogen und sie auch danach niemals angerührt. Ihre Ehe war ein Übereinkommen gewesen. Mathilde brachte ein beträchtliches Erbe mit, und Rüdiger sicherte der ältlichen, wenig begehrenswerten Frau ein standesgemäßes Leben zu. Sie wusste von seinen flüchtigen und häufig wechselnden Liebschaften, sie waren ihr gleichgültig. Wenn sie nicht stickte, pflegte sie überall in der Burg herumzugeistern, um die Dienstboten zu überwachen, die ihrer Meinung nach alle faul, schwatzhaft und diebisch waren. Außer Pater Anselm hatte sie niemanden, dem sie vertraute oder der sie mochte. Das störte sie ebenso wenig, denn sie mochte auch niemanden.
Pater Anselm jedoch verehrte sie beinahe wie einen Heiligen. Jeden Tag betete sie mit ihm zusammen in der Burgkapelle. Sie stiftete aus eigenem Vermögen eine Statue der Maria mit dem Jesuskind, ließ zwei dicke Wachskerzen aufstellen und erwarb von einem fahrenden Ritter einen echten, vom Papst in Rom geweihten Zahn der Jungfrau, den sie in einem Reliquienschrein im Altar aufbewahrte. Pater Anselm nannte sie eine fromme Magd Gottes und nahm sie gegen jedermann in Schutz.
Der Graf beachtete sie kaum, außer wenn es galt, die Form zu wahren. Manchmal, wenn er sie ansah, hielt er sie für eine Strafe Gottes für seine Sünden. Dennoch zögerte er nicht, auch weiterhin zu sündigen, denn mit dieser leibhaftigen Buße an seiner Seite hatte er sich eine Menge Ablass verdient, wie er meinte.
Seine Gedanken weilten gerade bei der hübschen Nichte der Gräfin Adelgunde, die in der letzten Woche zu Gast gewesen war. Da klopfte es. Ein Knappe meldete, ein fahrender Sänger sei gekommen und bitte um Obdach und eine warme Mahlzeit.
Diese Unterbrechung war hochwillkommen. Sofort röteten sich Rüdigers Wangen freudig, und seine Augen bekamen Glanz. Dieser Abend würde nicht so eintönig verlaufen wie die Letzten. Ein fahrender Sänger unterhielt nicht nur auf das Angenehmste, er brachte auch Neuigkeiten aus der Welt mit. Rüdiger befahl, den Sänger in die große Halle zu bitten und ihm alles so behaglich wie möglich zu machen. Die Küche solle nachschauen, was sie noch auftischen könne, der Kellermeister noch ein Fass Wein heraufholen und die
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