Schatten eines Gottes (German Edition)
Emanuel befürchtet, aber nicht in dieser Offenheit. »Warum nicht?«, stammelte er. »Es war die Rede von ein paar Tagen.«
»Eine kleine Notlüge, Bruder Emanuel. Wie unwichtig ist sie angesichts des großen Ziels.«
»In Gottes Namen! Von welchem Ziel sprecht Ihr? Nicht von meinem, das wüsste ich.«
»Ihr werdet es zu dem Euren machen.«
»Und Octavien?«
»Er wird eher dazu bereit sein als Ihr. Er ist der Sohn eines Tempelritters.«
Emanuel begann zu frösteln. Jetzt erst begriff er, wie aussichtslos seine Lage war. »Was bei allen Heiligen hat das zu bedeuten? Was verbergt Ihr hier?«
»Ihr sollt es erfahren. Folgt mir!«
»Nicht, ohne zu wissen, was Ihr im Schilde führt.«
»Nichts Böses, Emanuel. Ihr könnt mir vertrauen.«
»Euer Verhalten trägt nicht dazu bei.«
»Mein Verhalten? Was habe ich getan? Ich habe Euch unsere Bibliothek zur Verfügung gestellt, von allen anderen Annehmlichkeiten ganz zu schweigen.«
»Ihr haltet mich hier gegen meinen Willen fest.«
»Gegen Euren derzeitigen Willen, Emanuel. Am Ende werdet Ihr davon überzeugt sein, dass Euer Wille Euch in die Irre geleitet hat. Wisst Ihr, dass die Bibliothek nur einen kleinen Teil unseres Bestandes an Büchern ausmacht? Dort findet der aufmerksame Leser nur Werke, die die Kirche unter gewissen Auflagen noch erlaubt. Jedoch darüber hinaus wird hier das umfangreiche Wissen jener Völker gelehrt, die ihr Christen als Heiden bezeichnet und deren Schriften ihr für des Teufels haltet.«
Emanuel war entsetzt. »Ihr Christen? Was wollt Ihr damit sagen? Dass Ihr kein Christ seid, Bruder?«
Nathaniel lächelte selbstgefällig. »Ich fühle mich nicht sehr wohl in dieser christlichen Welt, wo es eine Kirche gibt, die mit Feuer und Schwert die Menschen drangsaliert. Die mit verlogener Gottesfurcht, falschen Jenseitshoffnungen, Androhung des Jüngsten Gerichts, der Angst vor dem Fegefeuer und der ewigen Verdammnis die Menschen zu unmündigen Kreaturen erniedrigt. Ich wehre mich gegen diese Hölle auf Erden, und ich stehe damit nicht allein.«
Emanuel nahm das Buch auf und erhob sich mit zitternden Knien. Wie einen Schild presste er das schwere Werk gegen seine Brust. Ein Teil seiner Welt war soeben zusammengestürzt. Der verehrungswürdige Abt Nathaniel, das Licht der Gelehrsamkeit, war offensichtlich das Oberhaupt einer Verschwörung, die zum Ziel hatte, das Christentum zu bekämpfen.
»Seht, Bruder Emanuel«, fuhr Nathaniel begütigend fort und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ihr dient, ohne es zu wissen, Satan, doch Ihr solltet dem Lichte dienen.«
Emanuel versuchte, seine Betroffenheit über diese Enthüllungen hinunterzuschlucken. Im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als an den Fäden des großen Puppenspielers Nathaniel zu tanzen.
»Wen meint Ihr mit Satan? Den Papst?«
»Selbstverständlich. Er und alle Diener der Kirche sind Teufelsdiener. Aber sie selbst merken es nicht, sie glauben wirklich, mit ihren unzähligen Schandtaten Jesus Christus zu folgen. Ist das nicht eine einzigartige Verblendung?«
»Es wurden Fehler gemacht …«
»Fehler?« Zum ersten Mal verließ den Abt seine zur Schau getragene Gelassenheit, und er erhob erbittert seine Stimme: »Die Niedermetzelung der Albigenser, der Katharer und Juden, der Betrug an Tausenden von Kindern, das nennt Ihr einen Fehler?«
»Großer Gott!«, stöhnte Emanuel. Er ließ das Buch zu Boden fallen und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ihr wart es doch, der den Kreuzzug unterstützt hat! Und eingangs habt Ihr mich noch dafür gelobt. Was seid Ihr für ein zynischer Heuchler!«
»Ich musste das tun, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen«, erwiderte Nathaniel kühl. »Ich musste mich stets und überall verstellen, um das große Ziel nicht zu gefährden. Letzten Endes war meine Stimme nur eine in dem großen Chor und nicht ausschlaggebend. Ihr jedoch habt den Kinderkreuzzug erdacht, Ihr habt dafür gesorgt, dass er stattfindet. Ihr fandet den passenden Knaben und den passenden Verführer für ihn. Bruder Bernardo. Ein Franziskanermönch mit einem Antlitz wie Jesus.«
Emanuel war totenbleich. »Woher wisst Ihr das alles?«, krächzte er. Für einen schrecklichen Augenblick dachte er an Octavien. Sollte der Templer ein falsches Spiel gespielt haben? Hatte er ihn an den Kartäuser verraten?
»Aber was waren Eure Motive?«, fuhr Nathaniel fort, ohne den Einwurf zu beachten. »Waren es Eure Sorgen um die erlahmte Kreuzzugseuphorie? Nein! Den Abschaum
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