Schatten eines Gottes (German Edition)
Emanuel vergaß, dass er dort immer noch ein Gefangener sein würde. Er meinte, der Himmel müsse ihn nach St. Marien geführt haben.
***
Zum ersten Mal befand er sich in einem Atriumhaus. Es verfügte über große helle Räume und einen Mittelgang, der sich zu einem säulenumstandenen Hof öffnete, dem Peristyl. Was für eine Weite, was für ein Licht! Ganz anders als in dem engen, düsteren Köln. Das Peristyl ähnelte einem Kreuzgang im Kloster, nur die Heiligenbilder fehlten. Vom Säulengang aus konnte man die einzelnen Räumlichkeiten betreten.
Das Zimmer, das er bewohnen sollte, verfügte über ein Himmelbett und einen Tisch mit einem geräumigen Schreibpult nebst den dazugehörigen Pergamenten, Schreibfedern und Tintenfässern. Ein großer, fünfarmiger Leuchter mit dicken Bienenwachskerzen würde ausreichend Licht für die ganze Nacht spenden. Was für ein Unterschied zu dem kümmerlichen Winkel in der Franziskanerherberge! Die Wandregale waren voll mit Büchern und Schriftrollen. Auf der anderen Seite des Raumes gab es eine Nische mit kleinen Hockern, einer kunstvoll geschnitzten Truhe und einer Kommode, um alltägliche Dinge darin unterzubringen. Kruzifixe fehlten, dafür gab es schön bemalte Vasen. Eine weitere Tür öffnete sich zu einer weiträumigen Terrasse, die von Blumen und Grünpflanzen umgeben war.
Das angrenzende Zimmer überraschte ihn noch mehr. Es war ein Baderaum, aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Er war bis unter die Decke mit Marmorfliesen bedeckt, und eine der Wände war vollkommen verspiegelt. Im Boden befand sich eine gemauerte Vertiefung, in die Rohre hineinragten. Auf einem Hocker lagen weiche, parfümierte Tücher bereit. In Wandnischen standen Behälter aus farbigem Glas, bei denen Emanuel sich fragte, was sie enthielten. Große dicke Wachskerzen steckten in Wandhaltern.
Emanuel erfasste bei soviel Luxus ein bedrückendes Gefühl. Brauchte ein Mensch das? Vorsichtig rüttelte und drehte er an einem der Rohre und ließ erschrocken los, denn ein Strahl Wasser ergoss sich daraus. Rasch drehte Emanuel das Wasser wieder ab. Er war überwältigt. Das Wasser musste hier nicht in Eimern von keuchenden Bademägden hereingeschleppt werden. Es floss einfach aus diesem silbernen Rohr.
»Ich glaube, nicht einmal Kaiser Otto verfügt über ein solches Bad«, sagte er zu Nathaniel, der ihn herumführte. »Ein jedes Haus hier gleicht einem Herrensitz. Um diesen Luxus zu ermöglichen, bedarf es ungeheuren Reichtums. Es erscheint mir unmöglich, eine Stadt wie Köln derartig zu verwandeln.«
»Vor allem bedarf es kühner Ideen und kluger Köpfe, dazu den Willen, etwas Derartiges zu erschaffen, dann kommen die Mittel von allein. Alles, was Ihr hier seht, haben unsere Vorfahren bereits vor mehr als tausend Jahren gekannt. Beispielsweise kaltes und warmes Wasser, das aus Rohren fließt, die auch unter dem Fußboden entlanglaufen und so für angenehme Wärme im Winter sorgen. Es würde Stunden dauern, Euch alle die Wunder aufzuzählen, welche von klugen und tüchtigen Männern erdacht und in die Tat umgesetzt wurden. Die Herrscher der großen vergangenen Reiche wie Ägypten, Babylon, Persien und Rom haben diese Männer um sich geschart und gefördert. Sie waren geehrt im Lande. Das aufkommende Christentum hat diesen Wissensschatz nicht nur verkümmern lassen, es hat diese Männer als Ketzer und Gotteslästerer beschimpft. Es hat sie verfolgt, in den Kerker werfen und hinrichten lassen. Die unschätzbaren Werke der berühmten Bibliothek Alexandriens haben sie als heidnisches Teufelszeug betrachtet und verbrannt. Wo sich noch ein kluger Gedanke hervorwagte, wurde er zertreten, und das angesammelte Wissen verschwand. Wer es noch besaß, der hütete es wie einen Augapfel, aber er musste es verbergen. Das Resultat seht Ihr heute: Verdreckte Städte, enge Gassen ohne Sonnenschein, verschmutzte Brunnen, Armut und Unwissenheit allenthalben, in ihrem Gefolge Krankheiten, Seuchen und Tod. Und die Ärzte sind machtlos, weil sie die Schriften eines Hippokrates und Galen nie gelesen haben, von den ägyptischen Überlieferungen ganz zu schweigen. Ihre Behandlungsmethoden sind von kindischem Aberglauben geprägt, von einem Jahrmarktsgaukler sind sie nicht zu unterscheiden.«
Emanuel stand da wie ein offener Krug, in den Nathaniels Worte Tropfen um Tropfen fielen. Er ahnte, er würde noch viele solche Vorträge hören. Dinge, die seine Welt ihm bisher verschwiegen hatte. Er hatte gelernt, es sei der
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