Schatten eines Gottes (German Edition)
Tür aufgestoßen, aber noch weiß ich nicht, was sich hinter ihr verbirgt. Soll ich eintreten? Noch ist alles wie grauer Nebel. Wenn er mich verschluckt, kann ich nie mehr zurückkommen.«
»Emanuel!« Der Abt erhob sich. »Kommt. Ich will den Nebel etwas für Euch lichten. Eure kleinste Sorge sollte sein, wie Ihr, solltet Ihr Euch für Mithras entscheiden, im christlichen Umfeld bestehen könnt. Seht mich an. Wir in der Bruderschaft bewegen uns mühelos in zwei Welten. Ihr seid nicht der einzige Mönch, der zu uns gekommen ist.«
Nathaniel hatte auf alles eine Antwort, die herabglitt wie Öl. Aber eine Frage musste Emanuel noch loswerden: »Was ist, wenn ich mich weigere?«
Nathaniel begegnete kaltblütig seinem fragenden Blick. »Ihr dürftet St. Marien unbehelligt verlassen, doch unsere Leute sind überall, auch Altenberg wäre Euch keine Zuflucht mehr. Beim geringsten Anzeichen von Verrat würdet Ihr sterben.«
Emanuel schluckte und brachte ein verzerrtes Lächeln zustande. »Das ist wenigstens einmal eine ehrliche Antwort.«
***
Endlich hatte sich das geheimnisvolle verschlossene Tor für Emanuel geöffnet. Ein wüstes Gestrüpp aus Ranken und Dornenbüschen starrte ihm entgegen. Kein Weg schien hindurch zu führen. Nur ein Ortskundiger wie Nathaniel wusste, wo der Durchschlupf sich befand. Anschließend führte der Weg sie durch hügeliges, dicht bewaldetes, mit Felsen gespicktes Gelände. Niemand wäre freiwillig in diese unwirtliche Umgebung eingedrungen.
»Wo zum Teufel soll das enden?«, murmelte Emanuel vor sich hin, während er sich mit seiner knöchellangen Kutte in dornigen Ranken verfing und über Baumwurzeln stolperte.
Er hörte Nathaniel lachen. »Mönch! Es frommt Euch nicht, das Fluchen.«
»Wollt Ihr mich in eine Wolfsgrube stürzen? Oder in eine Schlucht?«
»Nur Geduld, wir sind gleich da.«
Da?,
dachte Emanuel.
Wo kann man hier schon ankommen? In einer Felsenhöhle vielleicht? In einem uralten Mithrasheiligtum, wo grauenvolle Bräuche gepflegt werden?
Es ging ein wenig bergan, und dann lichtete sich plötzlich der Wald.
Von der Kuppe herab blickte Emanuel auf eine winzige, aber perfekte Stadt, schimmernd wie ein Juwel lag sie da inmitten einer dunkelgrünen Wildnis, und sie machte ihn stumm vor Staunen. Hätte ihm jemand versichert, die Engel selbst hätten diese Stadt vom Himmel hierher versetzt, er hätte es geglaubt. Diese Stadt befand sich nicht nur an einem unglaublichen Ort, sie war auch ganz anders als die Städte, die er kannte. Sie hatte gepflasterte Wege und war strahlend weiß und sauber. Jedes Haus war aus Stein erbaut und hatte ein rotes Ziegeldach. Manche Häuser besaßen Säulen vor dem Eingang. Die kleinen Gärten waren von Mauern aus glänzenden blauen Kacheln umgeben, der Marktplatz von Kolonnaden gesäumt, unter deren Säulen offensichtlich ein Markt abgehalten wurde.
Wer kauft hier?
, fragte sich Emanuel. Die Mitte des Marktplatzes schmückte ein Brunnen mit einem stierähnlichen, sehr heidnisch anmutenden Fabelwesen, aus dessen Maul Wasserfontänen spritzten.
Nathaniel war hinter ihn getreten. »Das ist Neubabylon.«
»Babylon?« Emanuel zuckte zusammen. Babylon, das war die große Hure in der Apokalypse. Weshalb hatte der Abt diesen furchtbaren Namen gewählt? »So habe ich mir immer Rom vorgestellt«, stammelte Emanuel, noch ganz verzückt, »natürlich viel größer. Aber Babylon? Ist das nicht der Ort, wo das Tier mit den sieben Hörnern wohnt?«
Nathaniel lachte. »Babylon, das war einstmals die größte und schönste Stadt der Welt. Die Apokalypse hat Euer armer Johannes verfasst, als er, geschwächt von Fasten und Kasteien, diesen blühenden Unsinn niederschrieb. Doch da war Babylon nurmehr ein Mythos, seine Ruinen längst im Staub versunken. Mit dem siebenfach gehörnten Tiere hat er nicht Babylon, sondern Rom mit seinen sieben Hügeln gemeint.«
»Gehört diese Stadt Euch? Seid Ihr der Herrscher?«
»Sie gehört der Bruderschaft. Und wenn wir das Papsttum vernichtet haben, dann werden alle Städte so aussehen wie diese. Ihr tut hier einen Blick voraus auf die neue Zeit, die anbrechen wird, wenn wir unsere Ziele erreicht haben werden.«
Neubabylon beeindruckte Emanuel mehr als alle Worte des Abtes über Mithras. Wer solche Wunder erschaffen konnte, musste der nicht auch den richtigen Glauben besitzen?
»Ihr werdet umziehen. Ich besitze dort unten ein Haus. Für heute seid Ihr natürlich mein Gast.«
Er sollte in einem dieser Häuser wohnen?
Weitere Kostenlose Bücher