Schatten eines Gottes (German Edition)
»Nein, es wird immer Unterschiede geben, aber es wird ihnen besser gehen. Und wenn in den Städten der Dreck beseitigt wird, wenn es dort eine Kanalisation gibt, dann werden weniger Menschen erkranken. Wäre das nicht ein großer Fortschritt?«
Emanuel nickte nachdenklich. Der korrupte Klerus würde hinweggefegt, der das Wort Jesu täglich ad absurdum führte. Jeder Unzufriedene wäre ein möglicher Sympathisant. Er wusste, dass das Heidentum, wie die Christen anmaßend jeden anderen Glauben bezeichneten, tiefer und inniger im Volk verwurzelt war, als die Kirche es wahrhaben wollte. Würden Christentum und Heidentum eine Ehe miteinander eingehen? Viele waren ihr dem Schein nach gehorsam, doch im Grunde ihrer Seele, dort wo der Glaube nistet, hingen sie der alten Lebensweise an. Sie wurden nicht warm mit dem fremden Gott aus der Wüste, der ihnen nicht in die Herzen gepflanzt, sondern anbefohlen worden war. Man begegnete ihm nicht in Wald und Feld, er lebte nicht in den Weihern, Seen, in den lichten Wäldern oder im Gebälk des Dachgestühls. Er wohnte jetzt in goldenen Monstranzen und im Wort derer, die das Volk unterdrückten. War Mithras der Anfang vom Frieden mit Juden, Ketzern und Heiden? War es der Anfang einer besseren Welt?
»Ich meine«, fuhr Nathaniel gemessen fort, »es ist an der Zeit, dass Ihr mir die Wahrheit sagt. Die Wahrheit über das, was Ihr wirklich gefunden habt. Es war nicht nur ein Kochrezept, habe ich recht?«
»Woher wisst Ihr das?«, fuhr Octavien auf. Emanuel schüttelte leicht den Kopf. Damit hatte der Templer es zugegeben.
»Von Yves de Monthelon. Er ist ein guter Freund von mir.«
Diese Nachricht bestürzte die beiden erst einmal.
Mit wem ist Nathaniel nicht befreundet?,
dachte Emanuel verdrossen. Ihm fiel das echte Pergament ein. Plötzlich bedauerte er, dass es ihnen gestohlen worden war. Die neuen Gebote wären Gift für die Kirche, aber Balsam für den neuen Glauben, für den neuen Gott. Die guten Herrenworte wären unter Mithras sicher auf fruchtbaren Boden gefallen. Vorbei.
»Tatsächlich gehört Yves zu unserer Bruderschaft«, fuhr Nathaniel fort, der ein Gespür dafür hatte, was in dem anderen vorging, »aber ich versichere Euch, er hatte nichts Unlauteres im Sinn, als er Euch auf diese Spur setzte. Ich wusste ja bereits, dass Octavien nach etwas suchte und hoffte, die Spur werde sich nicht als wertlos herausstellen.«
Emanuel versuchte, sich mit Octavien über Blicke zu verständigen. Sie mussten jetzt höllisch aufpassen, was sie sagten. Octavien schloss langsam die Lider. Er hatte verstanden.
»Wir fanden am angegebenen Ort ein Kästchen«, gab Emanuel zu. Und er schilderte, wie sie es gefunden und ausgegraben hatten. Es war verschlossen, und wir wagten nicht, es zu öffnen. Es hätte schließlich ein Fluch darauf liegen können wie auf der Bundeslade.«
»Und es ist noch in eurem Besitz?«
»Ja. Wir waren auf dem Weg nach Rom, um es dem Papst auszuhändigen. Schließlich hatten es Tempelritter aus dem Heiligen Land mitgebracht. Aber nun sind wir uns nicht mehr so sicher, ob das der richtige Weg wäre. Vielleicht wäre es bei Euch besser aufgehoben.«
»Ich will Euch weder drängen noch beeinflussen, aber wem solltet Ihr es wohl sonst geben? Wenn es etwas ist, das der Kirche gefährlich werden kann, wird es in den dunkelsten Gewölben verschwinden, und Eure Leichname wird man irgendwann im Straßengraben finden. Jeder, der auf seinen Machterhalt bedacht ist, würde so handeln. Ist es für die Kirche aber nicht gefährlich« – Nathaniel lächelte herablassend – »dann ist es auch bedeutungslos.«
Obwohl Emanuel selbst zu dieser Einsicht gelangt war, bestürzten ihn Nathaniels offene Worte. Innozenz war ein großer Papst. Würde er morden lassen, um die Wahrheit zu vertuschen?
Nicht wegen des Textes aus der Apokalypse, nein. Aber wenn sie noch das Original hätten, wenn er es in die Hände bekäme, ja, dann würde er es tun. Er würde, um dieses Geheimnis zu hüten, nicht nur einen Zisterziensermönch töten lassen, er würde ganze Familien dafür auslöschen, Dörfer, Städte, bei Gott! Er würde einfach alles tun, um es zu bewahren. Innozenz hatte große Pläne. Wenn jemand oder etwas ihm diese Pläne zerstörte, was hatte er dann noch zu verlieren?
Aber die neuen Gebote des Herrn waren verschollen, es bestand wohl kaum die Gefahr, dass der Papst sie zu Gesicht bekam. Emanuel hatte einen gedanklichen Popanz aufgebaut, aber der genügte ihm, um dem Heiligen
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