Schatten eines Gottes (German Edition)
Podium in der Mitte aufgestellt, wo das Rednerpult stand. Monate der Vorbereitung waren nötig gewesen, um das Zusammenkommen der klügsten Köpfe aus aller Welt zu organisieren. Doch nun war der Tag gekommen.
Offiziell war Guillaume de Chartres, der Großmeister der Templer, nach Rom gekommen, um sich mit Papst Innozenz zu treffen. Es ging um die Rückgabe der ehemaligen Templerburg Baghras an den Orden. Momentan befand sie sich im Besitz König Leos von Kleinarmenien. De Chartres wollte den Papst hier um Vermittlung bitten, und Innozenz hatte versprochen, sich bei Leo dafür einzusetzen. Danach war de Chartres hochzufrieden angeblich wieder abgereist. In Wahrheit befand er sich immer noch in Rom, augenblicklich in den Gewölben unterhalb von San Sebastiano, und unterhielt sich angeregt mit Brüdern seines Ordens.
Octavien machte Emanuel auf den Großmeister aufmerksam. »Ich habe bis heute nicht geglaubt, dass er kommt«, flüsterte er. »Diese ganze Geschichte von Mithras habe ich nicht wirklich ernst genommen. Aber wenn de Chartres hier ist, dann steht der Orden hinter der Sache, jedenfalls die meisten. Brandgefährlich, aber höchst beeindruckend.«
»Ich habe de Monthelon gesehen«, flüsterte Emanuel zurück, der seinen Zisterzienserhabit trug. »Es ist wirklich erstaunlich, wie viele bekannte Gesichter sich hier tummeln. Da drüben sitzt Abt Heinrich von Kronberg aus Fulda, er war damals in Altenberg dabei, erinnerst du dich?«
Octavien schüttelte den Kopf. »Die geistlichen Herren waren mir damals alle recht gleichgültig.«
Er sah sich weiter um. »Viele Dunkelhäutige sieht man, wahrscheinlich Araber und Juden. Das ist wahrhaftig ein denkwürdiges Zusammentreffen.«
»Ich bin wahrscheinlich selber ein Araber«, erinnerte ihn Emanuel.
»Du bist kein Araber, du bist Mönch«, grinste Octavien. Sie hatten sich mittlerweile vom steifen ›Euch‹ verabschiedet.
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Mönch, Mithrasanhänger, Freidenker, Ketzer? Ich bin es leid, wie eine Schriftrolle in irgendwelche Fächer geschoben zu werden, ich möchte nur ich selbst sein. Emanuel, der aus eigener Geisteskraft und eigenem Willen etwas schafft.«
Das allgemeine Gemurmel verstummte. Die Männer, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und sich leise unterhielten, nahmen ihre Plätze ein. Nathaniel hatte das Rednerpult betreten. Gegen die hochgewachsenen breitschultrigen Templergestalten wirkte der Kartäuserabt schmächtig. Doch seine geistige Präsenz war überwältigend. Nach einigem Füßescharren und Räuspern wurde es erwartungsvoll still im Saal. Ein den altägyptischen Kopfbedeckungen ähnliches Tuch bedeckte sein Haupt, bekleidet war er mit einer schlichten altrömischen Tunika.
Er sprach mit leiser Stimme, und doch füllte sie den Saal, denn auch die akustische Beschaffenheit des Ortes war sorgfältig bedacht worden. Nathaniel begrüßte die Anwesenden, hob einige besonders ehrwürdige Namen hervor, betonte die Mühen und die Gefahren, die alle auf sich genommen hatten, um an diesem bedeutsamen Treffen teilzunehmen, und dankte ihnen dafür.
»Wir alle sind schon geraume Zeit wie durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden. Wir haben Briefe geschrieben und erhalten, wir sind gereist und haben Freunde besucht, und diese Freunde fanden wir sowohl am kaiserlichen Hof als auch in den Elendsvierteln von Köln, Syrakus oder Akkon. Unsichtbare Fäden wurden gesponnen, die sich immer enger miteinander verflochten, bis daraus ein starkes Band wurde. Doch wir wirken im Geheimen, denn wir wissen, wie die Kirche Abtrünnige bestraft. Deshalb ist es ein großer Erfolg, dass sich heute die Abgesandten vieler Länder und Glaubensrichtungen hier versammeln konnten, um den Plan, den wir alle verfolgen, durch regen Meinungsaustausch und geeignete Vorschläge zum Reifen zu bringen. Wir alle haben unsere eigenen Ideen und Wünsche mitgebracht, aber in einem Standpunkt sind wir uns einig: das Christentum in seiner jetzigen Form ist eine Gefahr für die Menschheit, und weil es nicht reformierbar ist, muss es beseitigt werden.«
Es erhob sich ein zustimmendes Geraune, einige klopften sogar an ihre Stühle oder gaben den Takt mit ihren Stiefeln an.
Octavien musste zweimal schlucken, bevor er sich vorsichtig umsah. Es war eine Sache, Gerüchte vernommen zu haben, eine andere, es so offen ausgesprochen zu hören und die Zustimmung von Männern zu erleben, die er für gute Christen gehalten hatte. Von den
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