Schatten eines Gottes (German Edition)
Tempelrittern abgesehen, die drei Männer rechts von ihm in ihren purpurroten Roben mussten Kardinäle sein. Worauf hatte er sich eingelassen? Wenn diese Sache scheiterte und ans Licht kam, waren sie alle vogelfrei. Wenn er nur etwas mehr davon verstünde. War das Christentum wirklich eine Gefahr für die Menschheit? War Mithras besser als Jesus? Oder war das nichts als ein schwärmerischer oder fanatischer Irrweg?
»Ich darf das Wort jetzt an Guillaume de Chartres, den Großmeister der Tempelritter, übergeben. Er wird als Erster zu euch sprechen. Ich bin der Meinung, ihm gebührt diese Ehre, und ich hoffe, das findet allgemeine Zustimmung. Damit hier kein hitziges Wortgefecht entsteht wie bei einer griechischen Volksversammlung, wird er außerdem die Diskussion leiten. Wer etwas beitragen möchte, hebt die Hand und nennt seinen Namen. Der Großmeister wird ihn dann aufrufen.«
De Chartres erhob sich und schritt zum Rednerpult. Er war eine beeindruckende Gestalt mit wallendem Barbarossabart und blitzenden blauen Augen. Er wartete, bis er die Aufmerksamkeit aller hatte, dann breitete er die Arme aus und rief: »Wir haben den Heiligen Gral gefunden!«
Nicht nur Octavien und Emanuel sahen sich überrascht an. Es entstand eine allgemeine Unruhe im Saal, Laute der Verblüffung wurden ausgestoßen, und das Gemurmel drohte in eine lautstarke Debatte umzukippen.
Über das Gesicht des Großmeisters flog ein Lächeln, es war ihm gelungen, die Diskussion mit einem Fanfarenstoß zu eröffnen. Erneut breitete er die Arme aus, und sein langer, weißer Templerumhang umwehte ihn wie Schwanenflügel. »Freunde!«, rief er. »Beruhigt euch. Was ich sagen wollte ist, wir alle gemeinsam haben ihn längst gefunden, längst zu unserem Heiligsten erkoren. Wir nutzen ihn täglich, wir schärfen an ihm unseren Geist und bemühen uns, mit seiner Hilfe die Welt ein bisschen besser zu machen. Er ist kein Gefäß, das Zauberkräfte besitzt. Das ist ein Mythos, eine Legende für einfältige Gemüter. Der Heilige Gral ist das gesammelte Wissen der Welt, das von Anbeginn der Menschheit von edlen und klugen Männern bewahrt und weitergegeben wurde. Es ist das Wissen, das unzählige Papyrusrollen, Ochsenhäute, Keilschrifttafeln und Pergamente füllte. Vieles ist bereits verloren gegangen. Und was von diesem unermesslichen Schatz übrig geblieben ist, droht eine engstirnige, scheinheilige Kirche endgültig zu zerstören. Wir, die wir einen großen Teil dieses Schatzes repräsentieren, sind aufgerufen, zu schützen, was noch vorhanden ist, es weiter zu entwickeln und es unseren Kindern zu vererben.«
Es wurde still nach diesen Worten. Octavien wurde von leiser Unruhe befallen. Der Großmeister hatte überhaupt nichts von dem Vorrecht einer adligen Geburt erwähnt. Wissen konnte schließlich jeder helle Kopf erwerben, selbst ein Bauer, wenn man ihn auf die Schule schickte. Aber eine lange Ahnenreihe, die hatte man im Blut. Er beobachtete Emanuel schräg von der Seite. Was mochte dieser darüber denken? Er war einmal ein Mönch gewesen, hatte dieser scheinheiligen Kirche, wie sich der Großmeister ausdrückte, gedient. Aber waren die Klöster nicht Horte des Wissens? Wer, wenn nicht der Klerus, war gelehrt und konnte lesen und schreiben? Stimmte es? Zerstörte die Kirche das Wissen der Welt?
»Ich bitte jetzt um Eure Beiträge, liebe Freunde.«
Mehrere Hände erhoben sich. De Chartres rief den Ersten auf: »Hasan ar-Rashid aus Antiochia, Dichter, Astronom und Mathematiker.«
Der Sarazene, ein kleiner rundlicher Mann mit einem riesigen Turban, erhob sich. Seine Stimme war sanft und eindringlich. »Mein Freund Guillaume, Allah sei mit ihm, hat wahr gesprochen. Ich möchte seine Rede vertiefen. Ich will erinnern. Ich will diese erhabene Versammlung benutzen, um anzuklagen. Ich klage an Papst Urban den Zweiten, Papst Eugen den Dritten, Gregor den Achten und weitere Päpste und ihre unheiligen Gehilfen. Ich klage sie an des Mordes an Völkern, aus denen unvergleichliche Männer hervorgegangen sind, die man gleichwohl wie Hunde beschimpfte und meinte, sie besudelten das Heilige Land. Ich nenne zuerst Muhammad Ibn Musa Al-Chwarismi. In der christlichen Welt mag er unbekannt sein, doch er war ein großer Mathematiker. Die Welt verdankt ihm ein Zahlensystem, das in Europa weitgehend unbekannt ist und das mit der Null und weiteren neun Ziffern alle nur denkbaren Zahlen darstellen kann. Die römischen Ziffern nehmen sich dagegen wie Ackergäule neben
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