Schatten eines Gottes (German Edition)
verhalten hatte, der vor dem Prior weglief. Sinans Vorhaltungen hatten ihm eingeleuchtet, aber ihm seine Ängste nicht nehmen können.
Wovor fürchtete er sich? Vor seinen uneingestandenen Begierden? Vor der Höllenstrafe? Aber das waren doch alles nur Spukgeschichten für kleine Kinder. Stammte seine Furcht aus einer anderen Quelle? Aus einer unerträglichen Einsamkeit, zu der er sich selbst verurteilt hatte? Er war Mönch geworden, aber er hatte Jesus immer nur mit Ritualen, nie mit dem Herzen gedient. Wo andere Halt im Glauben fanden, existierte für ihn nur eine jammervolle Leere. Da war niemand. Niemand außer ihm selbst. Oft wusste er selbst nicht, was in seinem Innern vorging, ob dort die Engel psalmodierten oder der Teufel die Pauke schlug.
Am Ende hatte ihm immer nur der Glaube an sich selbst geholfen. Beten und Nachtwachen hatten ihn Gott nicht näher gebracht. Was er heute war, hatte er den Schriften, unermüdlichem Studium und strikter Disziplin zu verdanken. Die geistliche Hülle hatte ihn vor der Welt geschützt. Dann war er in sie hinausgegangen und hatte sie abgeworfen, weil er geglaubt hatte, in St. Marien das Heil zu finden. Dort hatte er vom Licht erfahren. Doch wer sich selbst verschließt, kann es nicht hereinlassen, in ihm bleibt alles dunkel. Die gehässigen Bemerkungen des Priors hatten sich bei ihm eingenistet wie ein Schwarm Schmeißfliegen. Und statt in seinem Geist ein Fenster zu öffnen, um sie hinauszuscheuchen, hatte er sie weiterhin genährt.
Willst du, dass ein minderwertiges Weib ohne Bildung von deinem Innern Besitz ergreift? Lässt dein Stolz das zu?
Sinans Worte klangen ihm noch in den Ohren. Emanuels gefaltete Hände entkrampften sich. Er stieß einen Seufzer aus und erhob sich. Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Und kaum hatte er es beschlossen, wurde ihm ganz leicht ums Herz.
***
Octavien hatte einen ausgedehnten Ritt hinter sich und kam von den Ställen, als ihm Emanuel über den Hof entgegen lief. »Gute Nachrichten!«, rief er und winkte ihm aufgeregt zu.
»Hat Bernardo den Papst vergiftet?«, scherzte Octavien, während er ein paar Strohhalme von seinem Rock pflückte.
»Ich habe deine Agnes gesehen.«
Octavien blieb stehen. »Was? Wo?«
»In der Kirche Santa Croce in Gerusalemme.«
Octaviens Augen glänzten. »Dann ist sie also wirklich hier! Sie ist in Rom!«
Emanuel stellte fest, dass er Octaviens Freude verstehen und teilen konnte. Und das war ein wundervolles Erlebnis für ihn. »Sie war in Begleitung eines jungen Mannes«, konnte er sich jedoch nicht enthalten zu erwähnen.
»Eines jungen Mannes? Hm, wie sah der Kerl aus?«
»Unauffällig, ganz unauffällig. Gegen dich ist er eine Schabe.«
Octavien grinste verlegen. »Du nimmst mich doch auf den Arm. Bestimmt war er reich, muskulös und gut aussehend. Tausend Teufel! Ich muss Agnes finden, bevor dieser Wüstling sie ins Unglück stürzt.«
Emanuel lächelte. »Viel Glück, Templer. In der Nähe von Santa Croce gibt es einen kleinen Markt, versucht dort Euer Glück.«
»He! Am liebsten würde ich dich jetzt umarmen – Sarmad!« Octavien zwinkerte ihm zu und kehrte eilig zu den Ställen zurück.
***
Natürlich hatte sich Octavien schon auf etlichen Märkten umgesehen, aber Rom war viel weitläufiger als Mainz, und Märkte gab es praktisch an jeder Ecke. Aber nun wusste er mit Sicherheit, dass er sie finden würde.
Agnes passte nicht in seine Welt, er wusste es, aber er konnte nichts dagegen tun. Er mochte sie einfach, er konnte mit ihr lachen, und sie zierte sich nicht wie ein streng erzogenes Burgfräulein. Sie besaß nicht das, was man Bildung nannte, aber sie war klug, mutig und wusste das Leben anzupacken. Allerdings brachte ihr unabhängiges Denken, das so wenig fraulich war, ihn oftmals in Verlegenheit. Er hatte sich oft gefragt, wie weit er für sie gehen und die Standesunterschiede einfach beiseite wischen würde.
Er fand sie auf dem fünften Markt unterhalb der Aurelianischen Stadtmauer bei einem respektablen Verkaufsstand. Sie saß auf einer Bank, die Arme verschränkt und wippte mit dem rechten Fuß. Als Octavien sie so sah, wusste er, wie sehr er diese Frau liebte.
»Jungfer Agnes? Was treibt dich nach Rom? Sind die Mainzer deiner Kieselsteine überdrüssig?«
Sie erblickte ihn, und über ihr Gesicht schien ein Sonnenstrahl zu fliegen. Sie wollte aufspringen, ihm entgegen eilen, doch mitten in der Bewegung hielt sie inne und verschränkte herrisch die Arme. »Octavien de
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