Schatten eines Gottes (German Edition)
sich nach langem Überlegen und Gesprächen mit Octavien entschieden hatte.
Zwei Wege hatten ihm offengestanden: zurück ins Kloster Altenberg, wo ihn das bescheidene und unaufgeregte Leben eines Mönchs erwartete. Ein Leben, das Emanuel noch nie erstrebenswert erschienen war. Und nachdem er gar einen Blick in eine andere Welt hatte tun dürfen, dünkten ihn die ehrwürdigen Klostermauern Altenbergs Kerkermauern. Weshalb also nicht zurück in die lichte Welt Neubabylons eilen, wo ein ungeheurer Wissensschatz darauf wartete, von ihm erschlossen zu werden. Andererseits war die Bewegung gescheitert und dieser Ort auch nichts anderes als ein Gefängnis, wenn auch eins mit vergoldeten Gitterstäben. Nathaniel hatte allerdings nichts von einem Scheitern wissen wollen und behauptet, die Bewegung habe zwar eine Niederlage erlitten, aber sie werde sich bald wie ein Phönix aus der Asche wieder erheben.
Emanuel konnte das glauben oder auch nicht. Es gab vieles, was gegen ein Leben in Neubabylon sprach. Er konnte es wegen seiner unzugänglichen Lage nicht ohne Weiteres verlassen. Nathaniel war ein undurchsichtiger Mann mit großen Ideen und Plänen, der jedoch vor Mord nicht zurückschreckte. Tatsächlich hätte Emanuel diese Gewohnheit nicht wirklich verwundert oder abgestoßen. Große Visionen und Vorhaben waren stets mit Blut erkauft worden. Aber die neue Lehre des Lichtgottes Mithras wollte so gar nicht dazu passen. Das hieß nichts anderes, als dass Nathaniel wie alle Machtmenschen auch diese Religion missbrauchen würde, und dann wäre nichts gegenüber dem Christentum gewonnen. Er – Emanuel – würde sich in Neubabylon jedoch ganz diesem Manne ausliefern. War er dazu bereit, wenn er im Gegenzug ein Leben wie ein Patrizier im alten Rom führen konnte, aller profanen Obliegenheiten enthoben, nur dem Streben nach Wissen verpflichtet?
Octavien hatte ihm dazu geraten. Neubabylon sei mehr als eine künstliche Stadt, es sei eine große Idee, an der Emanuel doch sicher weiterwirken wolle, auch wenn das Papstattentat gescheitert war und das kostbare Pergament verloren.
»Du hast gut reden«, hatte Emanuel ihm gereizt erwidert. »Du begibst dich mit deiner Agnes auf dein Gut bei Aachen, wo du bei deinen Bauern und Leibeigenen den großen Herrn spielen kannst. Oder beabsichtigst du, daheim die neuen Gebote Jesu einzuführen?«
»Man darf nichts überstürzen, mein Freund. Wer Altes einreißt, muss wissen, wo er mit den Ruinen bleibt. Im Übrigen bin ich eben klüger gewesen als du und weder Mönch geworden noch dem Templerorden beigetreten. So bin ich ein freier Mann geblieben. Gebiert nicht die Beschäftigung mit den alten Schriften freie Geister? Dann kämpfe für die Freiheit. Kämpfe dafür, dass das kleine Neubabylon seine Grenzen sprengt und über den dunklen Wald hinauswächst, der es begrenzt und einschließt.«
Ja. Am Ende hatte sich Emanuel Octaviens Denkweise angeschlossen, wenngleich mit innerem Murren. Aber das Kloster Altenberg erschien ihm doch allzu muffig. Nun ritt er nordwärts. Wieder einmal hatte er Rom den Rücken gekehrt. Rom, die Stadt, die für ihn dereinst das gewesen war, was für die Kinder des Kreuzzuges das goldene Jerusalem. Unter dem Christentum war es heruntergekommen, auch das Athen des Perikles und des Platon gab es nicht mehr. Aber in Neubabylon entfaltete sich zaghaft eine neue Blüte, die es zu wässern lohnte.
Octavien und Agnes ritten an der Spitze des Zuges, ihnen folgte die Kutsche des Kartäuserabtes, der jedoch in Rom geblieben war. In der Kutsche saßen Mönche aus St. Marien, die angeblich Sehnsucht nach ihrem Kloster hatten, in Wahrheit aber auf Emanuel achtgeben sollten. Zwei Gründe für Emanuel, sich am Ende des Zuges aufzuhalten. Agnes konnte er immer noch nicht in die Augen sehen. Seinem Freund hatte er die große Liebe seines Lebens gegönnt, doch die Scham über jenes Ereignis in St. Stephan hatte er noch nicht überwunden. Gern hätte er sich Sinans oder Octaviens unbeschwerte Sichtweise zueigen gemacht, und es ärgerte ihn, dass er nach wie vor nicht dazu fähig war. Zu tief saßen bei ihm noch die Vorbehalte gegen körperliche Annäherung. Unkeuschheit und Unzucht klangen immer noch wie hallende Donnerworte in seinen Ohren.
Bei Koblenz trennten sich ihre Wege. Agnes hatte sich bei der Verabschiedung der beiden Männer taktvoll im Hintergrund gehalten. Und so standen sich Emanuel und Octavien ein bisschen verloren gegenüber. Die Trennung fiel beiden schwer,
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