Schatten eines Gottes (German Edition)
Nicholas, obwohl mich viele hier Ali rufen.«
Sinan lächelte. »Ali. Mir gefällt Nicholas besser. Weißt du eigentlich, dass ich dein Bild seit jener Begegnung immer in meinem Herzen getragen habe? Wie ein schmerzender Pfeil saß es darin, denn ich glaubte, du seiest tot.«
»Es hat eine Zeit gegeben, da wollte ich sterben. Ich glaubte, ich hätte nicht das Recht zu überleben. Später dann …« Er zögerte. »Ich lernte zu leben, irgendwie. Zu überleben, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich glaube schon«, murmelte Sinan, ohne darüber nachzudenken. Er sah nur ihn, den Engel von Köln, den Engel, der ihn in schlaflosen Nächten heimgesucht hatte, und der ihm, wie ein himmlisches Wunder, mitten im Souk von Hama erschienen war.
»Ich möchte dich gern wiedersehen, Nicholas.«
Nicholas’ Gesicht glich einer leeren Fläche. »Du kannst gern jederzeit vorbeikommen. Ich arbeite da drüben bei Meister Hassan, wo der große Kupferkessel hängt.« Er nahm seine Becher von der Lehne. »Ich muss jetzt gehen.«
»Nein, bleib noch! Bitte! Ist es nicht eine Fügung, dass wir uns hier begegnet sind?«
Nicholas erhob sich, die Becher klirrten leise. »Für diese Art von Fügung wird mein Meister nicht viel Verständnis aufbringen, fürchte ich.«
»Ich zahle ihm den Verdienstausfall eines Tages«, erwiderte Sinan rasch. »Nein, den von zweien, von zehn Tagen. Wenn du nur bleibst. Wenn du – noch etwas mit mir trinken wolltest und etwas reden.«
Nicholas sah unschlüssig auf Sinan hinab. »Zehn Tagesverdienste?«
Sinan nickte heftig.
»Ich verstehe«, erwiderte Nicholas kühl. »Reden wir also. Ich trinke Pfefferminztee, und ich mag ihn sehr süß.«
Sinan bestellte das Gewünschte. Dann beobachtete er Nicholas, wie seine schlanken Finger das Glas hielten, wie er es zum Munde führte, daran nippte, wie ihm die Flüssigkeit durch die Kehle rann. Jede seiner Gesten war von erlesener Eleganz, Lichter und Schatten glitten über seine Haut wie über polierte Bronze. In seinen ernsten Augen spiegelte sich die Erfahrung eines reifen Mannes, und jeder flüchtige Blick traf Sinan wie ein winziger Pfeil, der auf seiner Haut prickelte.
Nicholas schien sich Sinans Betrachtung nicht bewusst zu sein. »Was tust du im Heiligen Land?«, fragte er wie unbeteiligt.
Denke dir eine farbige Geschichte aus, beeindrucke ihn, lasse seine Augen, die so viel Leid gesehen haben, vor Freude leuchten. Du bist gut darin, Sinan.
Aber als er den Mund öffnete, hörte er sich wahrheitsgemäß sagen: »Ich musste fliehen.«
»Hast du so schlecht gesungen?«
Zum ersten Mal lächelte Nicholas ganz unbeschwert, und Sinan musste sich Gewalt antun, dieses Gesicht nicht zu umfangen, diesen Mund nicht zu küssen. Aber das kam natürlich nicht infrage. Der Junge war ein Heiliger. Er lächelte gezwungen. »Sagen wir, ich hatte eine Aufgabe übernommen und bin an ihr gescheitert. Das eint uns, sind wir nicht beide gescheitert?«
Nicholas nippte an seinem Tee. »Ich wurde getäuscht.«
»Ich würde dich niemals enttäuschen.«
»Wie könntest du? Ich habe keine Erwartungen an dich.«
»Ich …« Sinan rang nach Worten. Nach Worten, die ihm bisher immer leicht über die Lippen gegangen waren. Leichtfertige Versprechen, schillernde Märchen, Gaukeleien, Tändeleien, Schwindeleien, er war ein Meister darin, doch in dieser Sekunde, wo ein paar vergoldete Redensarten ihm den Himmel hätten schenken können, versagte seine Stimme. »Ich würde gern so vieles für dich tun, Nicholas.« Er hörte sich an wie eine betuliche Amme, und er hasste sich dafür.
»Was denn?«
Nicholas sah so unschuldig aus, so gottesfürchtig und frühzeitig vom Leid gereift. Sinan räusperte sich. »Was du willst. Du musst es mir nur sagen.«
»Wohnst du allein?«
Sinan zuckte zusammen. »Ja …«
»Hier in der Nähe?«
»Ich habe ein Zimmer in einer Herberge gemietet, gleich neben der alten Moschee.«
»Dann könnten wir doch dort unsere Unterhaltung fortsetzen. Ich muss nur zuerst meine Becher abliefern und mit dem Meister sprechen.«
Sinan starrte ihn an, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. »Du willst – hm, ich glaube, das ist keine gute Idee.«
»Ach so. Na dann will ich nicht länger zur Last fallen.« Nicholas machte Anstalten, sich zu erheben.
Sinan packte ihn am Arm. »Nein! Bitte setz dich wieder. Du fällst mir doch nicht zur Last. Es ist nur so, dass ich dir nicht wehtun möchte.«
Nicholas runzelte die Stirn. »Mir wehtun? Ich verstehe dich
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