Schatten eines Gottes (German Edition)
deshalb nutzte er die Gelegenheit, sich in der Stadt umzusehen, so wie er es stets tat, wenn er irgendwo eintraf.
An den Nachmittagen suchte er gern diesen schattigen Ort auf, um die geschäftige, von Farben und Gerüchen durchtränkte Atmosphäre auf sich einwirken zu lassen. Die Düfte von Zimt, Vanille, Kardamom, Nelken und Muskat, vermischt mit Rosen- und Mandelöl der Marzipanhersteller legte sich wohltuend auf seine Sinne. Von der nahen Moschee rief der Muezzin zum Gebet. Verschleierte Frauen, gefolgt von schwarzen Dienern, Juden mit Gebetskappe und Kaftan, Kaufleute mit Turbanen, Mützen oder Kopftüchern in langen Gewändern, barfüßige Knaben in Kitteln fluteten an Sinan vorbei. Von irgendwo her ertönte der Singsang eines Sufis.
Ein junger Bursche mit Kupferbechern, die er an einer Lederschnur befestigt hatte, eilte vorüber. Einer der Becher löste sich und rollte Sinan vor die Füße. Er hob ihn auf und wollte ihn dem Jungen reichen. Doch mitten in der Bewegung erstarrte er. Sein Blick begegnete dem des Jungen, erfasste die feinen Züge, die sanften, braunen Augen und das lange blonde Haar, um das er ein bunt gestreiftes Kopftuch gewunden hatte. Aber seine Züge waren härter geworden, er hatte keinen Knaben mehr vor sich. »Ich kenne dich!«, stieß Sinan hervor.
Über das Gesicht des Jungen glitt ein bitteres Zucken. »Mich haben viele gekannt.« Er streckte die Hand aus. »Gibst du mir meinen Becher wieder?«
Sinan hielt ihn noch immer in der Hand. »Natürlich. Hier.« Er konnte es kaum fassen, aber er war es! Jener Junge, den er verloren geglaubt, aber den er niemals vergessen hatte. »Du bist Nicholas! Und du hast überlebt! Wie bist du hierher gekommen?«
»Wie alle, die hier gestrandet sind. Mit dem Schiff.« Offensichtlich war er zu keinem weiteren Gespräch bereit und wollte weitergehen.
»Nicholas! Warte! Darf ich dich einladen – zu einem Glas Milch vielleicht?«
»Das ist sehr freundlich, aber der Kunde wartet auf die Ware.«
»Er wird warten können, wir sind hier im Orient. Zeit spielt keine Rolle.« Sinan lächelte Nicholas an und wies auf einen lederbezogenen Stuhl. »Bitte!«
Nicholas zögerte, warf Sinan einen abschätzenden Blick zu und setzte sich dann. Die Schnur mit den Bechern hängte er über die Lehne. »Müsste ich dich kennen?«
»Ich hoffe, du erinnerst dich, Nicholas. Es war in einer Fischerschenke, ich hatte deine Freunde und dich zum Essen eingeladen.«
Ein Erkennen blitzte in Nicholas Augen auf. »Du bist der Spielmann. Aufgespielt hast du uns, und wir haben getanzt.«
»Ja, und wie wundervoll du getanzt hast. Ich sehe dich vor mir. Immer! Aber damals warst du nicht so braun gebrannt.«
Nicholas stieß ein bitteres Lachen aus. »Bleich und verhungert, ja, das waren wir damals wohl alle. Und du? Hast du auch die toten Kinder gesehen?«
»Ja. Viele.«
»Ich sehe sie immer noch in meinen Träumen.«
»Wie hast du überlebt?«
»Ich habe es mit einem kleinen Rest bis Pisa geschafft. Dort haben uns Schiffe nach Akkon mitgenommen. Wir wurden alle in die Sklaverei verkauft.«
Sinan griff spontan nach Nicholas’ Hand. »Du bist ein Sklave?«
Nicholas ließ seine Hand ein paar Sekunden länger als nötig verweilen. Bevor er sie zurückzog, lächelte er unbestimmt. »Nein, nicht mehr. Ich bin Muslim geworden, da musste mein Herr mich freilassen.«
»Allah sei Dank!«, rief Sinan erleichtert, »sonst hätte ich dich freigekauft.«
»Oh, das wäre großzügig von dir gewesen. Ja, damals in der Schenke, das war ein schöner Tag. Leider kann ich mich an deinen Namen nicht erinnern.«
»Sinan.«
»Sinan? Und was tust du hier in Hama?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen. Ihr seid doch in Akkon angekommen?«
»Ich hatte seitdem mehrere Gebieter.« Nicholas verzog leicht den Mund. »Jetzt lerne ich bei einem Kupferschmied. Er ist – ein guter Meister.«
»Dann willst du hier bleiben? Du hast keine Sehnsucht mehr nach deiner Heimat?«
Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Heimat ist hier. Ich wollte Jerusalem sehen und die Heiden bekehren, dann musste ich mich bekehren lassen. Ich bin in Jerusalem gewesen. Es ist nur eine kleine Stadt auf einem Hügel. Das goldene Jerusalem ist ein Lügengespinst, eine Fata Morgana, wie sie hier sagen würden. Es wurde an uns verkauft wie die wertlosen Knochen, die sie anbeten.«
»Dann bist du kein Christ mehr?«
Nicholas nippte an der Milch, die inzwischen vor ihm abgestellt worden war. »Nein. Ich bin nur noch
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