Schatten eines Gottes (German Edition)
zu. »Ich nehme an, du kennst bereits meine Gründe?«
Octavien trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. »Agnes’ Vater ist verstorben. Na und? Das ändert nichts an meiner Einstellung. Ob Agnes nun eine von Eibenau ist oder nicht, ich werde sie heiraten.«
»Oh«, erwiderte Sieglinde und hob erstaunt die Augenbrauen, als habe sie diese Antwort keinesfalls erwartet, »das hoffe ich nicht. Denn dann müsstest du dir dein Brot selber verdienen. Keine feinen Kleider, keine geldlichen Mittel mehr, kein Herr von Stand, sondern ein Herr Namenlos. Nicht einmal dein Pferd gehört dir. Dir gehört nichts, verstehst du? Denn wenn du unseren Namen Saint-Amand von einer wie dieser Agnes besudeln lassen willst, dann musst du dich auch auf ihr Niveau hinabbegeben.«
Für einen Augenblick wich Octavien alles Blut aus dem Gesicht. Sollte seine Mutter das ernst meinen? Aber nein! Sie würde selbst nicht wollen, dass ihr einziger Sohn überall verbreitet, er sei verstoßen worden. Er beschloss, ihre Drohung zu übergehen. »Du hast sie mittelos auf die Straße geworfen. Die Frau, die ich liebe.«
»Nein, du irrst dich. Ich bot ihr eine großzügige Summe, aber sie hat abgelehnt.« Sieglinde zuckte die Achseln. »Der dumme Stolz des Pöbels.« Sie lächelte Octavien herausfordernd an. »Nicht wahr, er ist dumm, denn wenn man nichts hat, kann man es sich nicht leisten, hochmütig zu sein. Genauso wenig wie du es dir leisten kannst, mein Sohn.«
Octavien öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Konnte er wirklich für Agnes auf alle Annehmlichkeiten verzichten, die ihm sein privilegiertes Leben bisher geboten hatte? Er beschloss, zu diesem Zeitpunkt nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Schon morgen würde Agnes wieder hier sein, und dann wollte er doch einmal sehen, ob seine Mutter sie beide vom Hof jagen würde. Alles würde so weitergehen wie bisher mit dem Unterschied, dass Octavien alles für eine Hochzeit vorbereiten wollte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sich stets davongemacht hatte. Ab morgen würde alles anders werden. Er wollte endlich Fakten schaffen und Einladungen an alle befreundeten Familien schicken. Sieglinde würde es nicht wagen, die Hochzeit dann noch abzusagen. Die Blamage wäre ungeheuerlich.
Ja,
dachte Octavien,
mit meiner Mutter noch länger zu streiten, wird zu nichts führen, ich muss sie vor vollendete Tatsachen stellen.
»Ich werde darüber nachdenken«, meinte er daher kurz angebunden und ließ sie allein.
***
Octavien hatte sich geirrt. Agnes kam nicht zurück. Er schickte Boten aus in das nächste Dorf. Dort hatte man sie gesehen, aber sie hatte nirgends um Obdach gebeten. Ja, man habe sich gewundert, aber nicht gewagt, sie anzusprechen. Schließlich sei sie vom Gut gekommen, und dort werde man wohl wissen, was rechtens sei. Octavien schickte nun auch Boten in andere umliegende Dörfer aus, aber vergeblich. Agnes Spur hatte sich verloren. Jetzt erst begriff Octavien, dass es Agnes mit dem, was sie gesagt hatte, wirklich ernst gewesen war. Er schalt sich einen Trottel, dass er ihr nicht geglaubt hatte. Was Agnes sich in den Kopf gesetzt hatte, das führte sie durch. Er hätte sie besser kennen müssen. Jetzt begannen Furcht und Sorge an Octavien zu nagen. Während seine Mutter insgeheim triumphierte, hatte Octavien keine ruhige Minute mehr. Er wusste nur, dass er sie finden musste. Jeder Tag, der verstrich, mahnte ihn an sein Versäumnis. Er fluchte häufig vor sich hin, und das Gesinde hielt sich möglichst fern von ihm und seiner schlechten Laune.
Jeden Tag nahm er ein bisschen mehr Abschied von der Vorstellung, dereinst Herr auf Dreieichen zu sein. Zur Hölle mit dem Gut. Ohne Agnes war das Leben grau und ereignislos. Aber die Welt war groß. Wohin mochte sie sich gewandt haben? Vielleicht wieder nach Mainz? Saß sie womöglich wieder unter der Stadtmauer und drehte den Leuten ihre angepinselten Kieselsteine an? Möglich war es, aber sie konnte ebenso gut in die andere Richtung gewandert sein. Vielleicht gar zu diesem Ulrich. Woher stammte der? Aus Lübeck, richtig! Das war ihr zuzutrauen. Der las ihr schließlich jeden Wunsch von den Augen ab. Der brauchte keinen adeligen Stammbaum, für den war Agnes ohnehin eine Prinzessin.
Mainz, Lübeck oder gar Rom? Dort hatte sie gute Geschäfte gemacht. Und sie mochte das Wetter dort. Damals war sie mit den Kindern gezogen, aber es gab noch genug Pilgergruppen, denen sie sich anschließen konnte. Ihr Brot würde sie
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