Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
Unwahrscheinlich, dass dem Herrscher nicht zu Ohren gekommen sein sollte, was für ein seltener Vogel sich in sein Hoheitsgebiet verflogen hatte. Warum also bat ich meinen Vorgesetzten nicht um Vermittlung? Empfand ich bei aller Erwartung, dem Sultan zu begegnen, doch eine geheime Angst davor? Wie, wenn er mich erkannte? Man erzählte Wunder von Ulug Begs Gedächtniskraft. Hatte er nicht einmal sogar, als eine Aufstellung seiner Jagdbeute verloren gegangen war, die über viele Jahre zurückreichte, diese aus dem Kopf seinem Schreiber in die Feder diktiert, und war sie nicht bis auf geringfügige Unterschiede mit der wiedergefundenen gleich gewesen? Nun, der Herbst verging, und es wurde Winter, ehe mich Ulug Beg zu sich befahl.
Drei Tage nach der Sonnenwende war es. Ich weiß das noch so genau, weil ich, als der Schnee in leichten Flocken vor meinem Fenster tanzte, daran dachte, dass sie nun im Abendlande die Geburt unseres Herrn und Heilands feiern und der kleine Gyurka Pflaumenmännchen und allerhand Zuckerwerk auf seinem Teller finden würde – ein Gedanke, der verscheucht wurde durch den Boten, den der Sultan geschickt hatte, um mich zu holen.
Die Wehmut wich mit einem Schlage der Erwartung und die Erwartung einem nicht wegzuleugnenden leisen Grauen.
Denn wenn er mich erkannte – würde er mir den Kopf abschlagen lassen? Oder ... würde er vielleicht der sein, vor dem ich mein Versteckspiel aufgeben, dem ich mich anvertrauen könnte? Ja, ich gestehe es, so weit verstiegen sich meine Gedanken, und sie hatten Zeit, mir alles mögliche auszumalen, denn der Weg bis zu seiner Sternwarte war lang, und dorthin hatte er mich beschieden.
Die Sternwarte. Von weitem hatte ich sie schon oft gesehen, denn ob man gleich fast eine Stunde zu reiten hatte, bis man den Kohik-Hügel vor der Stadt erreichte, auf dem sie stand, ragte doch der mächtige, von vier Ecktürmen überhöhte Rundbau so hoch in den Himmel, dass er von vielen Punkten der Stadt zu erblicken war.
Die Türme waren genau nach den vier Himmelsgegenden ausgerichtet. In dem südlichen hatte der Sultan seinen Arbeitsraum.
Während ich die vielen Stufen, die zu diesem Raum führten, hinanstieg, hatte ich kein Auge für das, was es rundum zu sehen gab. Zu sehr war ich mir dessen bewusst, was für mich bei dieser Begegnung auf dem Spiele stand. Nun, ich meinte, auf alles gefasst zu sein.
Dennoch prallte ich zurück und erschrak im tiefsten Inneren, als der Mann, der am Fenster saß und sich schreibend über einen Bogen Papier gebeugt hatte, bei meinem Eintreten den Kopf hob und mich ansah.
Wie – das sollte Ulug Beg sein? Nicht die grauen Fäden in seinem Bart, nicht die Furchen des Alters in seinen Zügen waren es, die ihn mir so fremd erscheinen ließen. Die musste ich seinen einundfünfzig Jahren ja wohl zubilligen. Aber der Ausdruck seines Gesichtes: Keine Spur von Entschlussfreudigkeit spiegelte sich darin, kein Anflug von Tatenlust oder Zuversicht, sondern nur noch Bitternis, Müdigkeit und Kälte, die alle meine Erinnerungsbilder von ihm im Augenblick auslöschten. Wo war der Jüngling geblieben, der sich an den Reiterspielen meines Vaters erfreut, wo der Mann, der uns großmütig ein Tor in die Freiheit geöffnet hatte? Schatten Gottes auf Erden hatte man ihn genannt. Konnte dieser Name nicht auch einen anderen Sinn haben, als ihm diejenigen beilegten, die dem Herrscher damit schmeicheln wollten? Konnte das nicht heißen, dass der Große Schatten auf ihn gefallen war und sein Leben verdüstert hatte? Auch seine Stimme klang mir fremd. Er fragte dies und das, aber ich hatte den Eindruck, dass meine Antworten an seinen Ohren vorbeirauschten, ohne sein Herz zu treffen. Bis er auf das zu sprechen kam, weswegen er mich hatte rufen lassen.
»Wie? Eine Sternwarte gibt es in Padua nicht? Wird denn an der dortigen Medrese« (ja, er verwandte diesen Ausdruck, und es wurde mir schwer, ein Lächeln zu unterdrücken) »Astronomie nicht unterrichtet?«
»Doch, sie wird unterrichtet. Und zwar nach dem Almagest des Ptolemäus.«
»Ach, du meinst das Tabrir al Madschesti, dieses Buch, das schon vor Hunderten von Jahren aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt worden ist?«
»Und dann aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen wurde. Ja, das meine ich.«
»Aber das ist doch schon längst überholt! Ptolemäus kennt nicht einmal die Rechnungen mit dem Dschaib, er rechnet die Sternenhöhe noch mit den Sehnen des Winkels, was natürlich zu Ungenauigkeiten
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