Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
benötigte, sodass mir eine Menge davon übrig blieb. Ich wollte, ich hätte sie noch.
Am nächsten Tag nahm mich mein Vater an der Hand und ging mit mir zu Ben Nisam. Mir würgte es in der Kehle, als ich den dickbäuchigen Mann im gelben Seidengewand auf seinen Kissen sitzen sah, vor sich ein Schälchen mit in Zuckersaft eingedickten Rosenblättern und daneben einen Silberbecher, aus dem er die Flüssigkeit – war es Wein, war es eisgekühlter Fruchtsaft – mittels eines Strohhalms einsog.
»Nun, was bringst du mir, Kükülli?«
Mein Vater verneigte sich tief.
»Ich bringe meinem Herrn – Allah erfrische ihn mit seiner Güte – einen Knaben, der es nicht wert ist, dass mein Herr ihn auch nur mit den äußersten Augenwinkeln ansieht, der aber in seiner Zerknirschung ein Gelübde getan hat, unserm Herrn – Allah verleihe ihm Kraft, dass er im Geistlichen und Weltlichen erreiche, was er hofft – nicht eher wieder vor Augen treten zu wollen, als bis er zur Sühne seines Vorgehens den ganzen Koran abgeschrieben und auswendig gelernt hat.«
Das war die Ausdrucksweise, wie sie einem Vorgesetzten gegenüber dort üblich ist und mir damals zum ersten Male ins Bewusstsein drang, sodass sich mir diese Rede fast wörtlich eingeprägt hat. Ich empfand jedes Wort wie einen demütigenden Schlag, sie trieben mir die Röte ins Gesicht, und als es gar hieß: »Geh, Achmad, küsse unserm Herrn die Hand!« war mir, als hätte mich mein Vater verraten, und es wurde mir schwarz vor Augen. Aber während ich mich bückte und mit den Lippen Ben Nisams Fingerspitzen berührte, hämmerte es plötzlich in meinem Kopf: »Gelübde getan – nie wieder unter die Augen treten, bis er ...«, und: »Befreit hat mich mein Vater! Befreit!« jubelte es in meinem Herzen, sodass ich meine ganze Selbstbeherrschung aufbieten musste, um nicht zu ihm zu laufen und ihm um den Hals zu fallen. Nur die Tränen, die mir aus den Augen sprangen, konnte ich nicht zurückhalten, Ben Nisam aber deutete sie falsch. Er lächelte selbstgefällig, strich sich über den Bart und sagte:
»Du siehst, Kükülli, was für gute Früchte meine Maßnahmen zur Erziehung deines Sohnes getragen haben. Doch nun kann ich dich ja darin nicht mehr unterstützen. Also halte du dich in Zukunft an das Wort: »Wer seinen Sohn lieb hat, spart die Rute nicht.«
Und mein Vater antwortete: »Sicherlich ist die Weisheit meines Herrn – Allah erhalte seine Hoheit – größer als die meine, und ich werde sie mir zu Herzen nehmen und jenes andere Wort vergessen, nach dem ich ihn bisher erzogen habe: ›In den ersten sieben Jahren ist dein Sohn dein Blumenstrauß, in den zweiten sieben Jahren ist er dein Knecht – danach aber wird er dein Freund sein oder dein Feind, je nachdem, wozu du ihn gemacht hast›«
Da glitt es plötzlich wie ein Schatten über Ben Nisams weingerötetes Gesicht, und er winkte uns mit der Hand Entlassung zu. Ich aber hatte kaum unser Haus wieder betreten, da warf ich mich meinem Vater an den Hals und rief: »Dein Freund! Dein Freund! Dein Freund!« und lachte und weinte in einem Atemzug, sodass er mich kaum beruhigen konnte.
Meine Hand zittert, während ich dieses schreibe. Aber nicht, weil die Sehnsucht nach meinem toten Vater mich überwältigt hat – ach, niemals ist es mir so deutlich bewusst geworden, dass ich ihn nicht verloren habe, wie jetzt, wo mir sein Bild aus allen Winkeln meines Gedächtnisses entgegentritt. Nicht, dass mir der Tod den Vater geraubt hat, verdüstert mein Herz, wohl aber, dass mir das Leben den Sohn entriss und dass auch die Stelle, an der ihm in seinem Inneren mein Bild erscheinen müsste, taub und blind bleibt. Gott verzeihe mir und trete bei ihm an meine Statt, dass auch er mir verzeihe!
Den Koran abschreiben!
Unwillkürlich fließen mir die Worte der ersten Sure, die ich so oft gebetet habe, in die Feder. Ich konnte sie längst auswendig, als ich mit meiner großen Arbeit begann:
Lob sei Allah, dem Herrn der Welt,
ihm, dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
dem König am Tage des Gerichts!
Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilfe an.
Leite uns den rechten Pfad,
den Pfad derer, denen du gnädig bist,
und nicht derer, denen du zürnst,
nicht den der Irrenden.
Den Koran abschreiben!
Als ich meinen Entschluss dazu fasste, hatte ich kaum eine Vorstellung davon, in was für ein Unternehmen ich mich da einließ. Hatte ich dieses Buch doch noch niemals in Händen gehalten!
Unser Chodscha benützte es nie. Er diktierte uns die
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