Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
Wusste er doch, dass er für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen Sorge tragen musste, wenn er ein entsprechendes Lösegeld erhalten wollte – für Tote konnte er keines erwarten.
Die Kriegsgefangenen hatten die Frauen zu bedienen. Das Essen war reichlich, und selbst Wein kam immer auf den Tisch, setzen sich doch die muselmanischen Herrscher über keines der Korangesetze so gern hinweg wie über jenes, das dessen Genuss verbietet.
Mein Vater erhielt den Auftrag, den Keller zu überwachen, in dem eine Reihe Weinfässer stand, die zum größten Teil gefüllt waren. Mit seinem Kopf hatte er dafür zu bürgen, dass kein Unbefugter sich darüber hermachte, und so schlug er sein Nachtlager in diesem Weinkeller auf, hütete sich aber, selbst auch nur einen Schluck des Weines zu sich zu nehmen, denn nichts hätte ihm gefährlicher werden können als ein fester Schlaf, wie ihn ein guter Tropfen mit sich bringt.
So schreckte er eines Nachts auf durch ein verdächtiges Geräusch. Er griff nach dem Öllämpchen, das er ständig neben sich am Brennen hielt, und trat in den Kellergang. Da sah er ganz deutlich etwa zwanzig Schritte vor sich entfernt eine weiße Gestalt stehen.
»Die weiße Frau!« schoss es ihm durch den Kopf. Zu Hause hatten ihm die Mägde ihre Schauergeschichten von dieser Gespenstererscheinung erzählt: Wer ihr begegne, werde eines frühen, gewaltsamen Todes sterben. Als Kind hatte er sich maßlos vor ihr gefürchtet, als heranwachsender Jüngling darüber gespottet und gelacht, nun aber, da er sie vor sich sah, dauerte es doch eine Weile, bis er sich ein Herz fasste und auf sie zuging. Doch ehe er sie erreichen konnte, war sie verschwunden.
Da stieg ein Grauen in ihm hoch, und fast wäre das Öllämpchen seinen Händen entglitten. Aber als er sich wieder gefasst hatte, beschloss er, die Wände des langen Kellerganges genau abzusuchen, ob er vielleicht irgendwo eine Nische entdecken könne, in der sich jemand versteckt hielt. Das gelang ihm zwar nicht, doch als er mit den Händen die Wände abtastete, blieben seine Finger in einer Mauerritze stecken, und ein Stein löste sich plötzlich und fiel ihm auf den Fuß, sodass er einen Fluch ausstieß. Er stellte sein Öllämpchen in die Mauerlücke und erkannte staunend, dass sich dahinter ein Raum ausdehnte, in den das Licht seinen hellen Kegel hineinwarf. Und die weiße Gestalt wandte ihm ihr Gesicht zu, ein schönes, junges Mädchengesicht, aus dem ihn zwei von tödlichem Erschrecken weit aufgerissene schwarze Augen anstarrten. Über die Nähe der Erscheinung betroffen, schlug er unwillkürlich ein Kreuz und sagte zur Beschwörung: »Jesus Christus!« wie er es von Kind an gewöhnt war. Da bewegte auch sie die Hände zum Zeichen des Kreuzes und flüsterte mit bebenden Lippen: »Amen.«
Das war die erste Begegnung, die meine Eltern miteinander hatten.
Meine Mutter war die Tochter jenes georgischen Hauses und das einzige Kind eines reichen Kaufmanns, der, früh verwitwet, mit ganzer Seele an ihr hing. Da er oft auf Reisen sein musste, hatte er ihr zuliebe dieses Kellerversteck angelegt, heimlich des Nachts dort arbeitend ohne jegliche Hilfe, damit es niemanden gebe, der es verraten könne. Als er damit fertig war, nahm er die Tochter an der Hand, führte sie hinunter und zeigte ihr die geheime Stelle, wo sich die Mauersteine aus der Wand lösen ließen und einen kleinen Durchschlupf freigaben, zeigte ihr auch die Vorräte an Mehl und getrocknetem Obst, an Dörrfleisch und Wein, die er in großen irdenen, in die Erde eingelassenen Gefäßen aufbewahrt hatte, und sagte: »Sollten jemals während meiner Abwesenheit Feinde in unsere Stadt eindringen, so setze dich keinesfalls den Gefahren einer Flucht aus, sondern warte hier, bis ich wiederkomme.«
Und so war es geschehen. Die Dienerschaft, beim Herannahen der Feinde kopflos geworden, hatte das Weite gesucht, ohne das Verschwinden ihrer jungen Herrin zu beachten, die Stadt, deren Verteidigungswerke ohnehin zerstört waren, wurde von den meisten ihrer Bewohner verlassen, und das arme sechzehnjährige Kind saß allein in ihrem selbst gewählten Gefängnis und verzehrte sich in Angst und Sorge.
Was meine Mutter damals bewog, ihr Versteck zu verlassen, ob sie einen Erkundungsgang wagen wollte, ob eine innere Unruhe sie erfasst hatte, derer sie auf andere Art nicht Herr werden konnte – sie hat es mir nicht erzählt. Ich aber kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass es das Schicksal war, das die beiden Menschen
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