Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
ein Gewand nach dem andern, das Tirsad auf dem Basar verkauft, das Geld in unserer Reisekasse häuft sich, und wenn …«
»Ja«, fiel er mir ins Wort, »das ist es, was ich dir sagen wollte: Wenn ich gestorben bin, macht euch bald auf den Weg, wartet nicht etwa, bis du deine Studien beendet hast, es könnte sonst für sie zu spät sein.
Ihre Finger bewegen sich lustlos, wenn sie an ihrer Arbeit sitzt, ihre Lippen pressen sich zusammen, wenn sie schweigt, und wenn sie redet, ruhen ihre Hände ohne Bewegung in ihrem Schoß.«
Er hielt plötzlich inne, entzog mir seine Hand und legte sie mir auf den Mund. »Still«, flüsterte er, »kein Wort mehr. Sie tritt eben zur Tür heraus.«
Tatsächlich, da stand sie, ein Lichtkegel drang aus der offenen Tür und warf ihren Schatten fast bis zu uns herüber.
»Hier sitzt ihr?« fragte sie und trat auf uns zu. »Und ich suchte euch in allen Zimmern. Wovon habt ihr denn gesprochen, das die Wände unseres Hauses nicht hören durften?«
Ach, Nino«, gab Guram zur Antwort, »ich sagte unserm Giorgi, je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er. Aber er will es mir nicht glauben.«
Er glitt vom Rand des Wasserbeckens und ging ins Haus. Wir wollten ihn stützen, aber er wehrte es ab. Er aß mit uns zum Abend, man musste ihn gar nicht dazu nötigen. Dann sagte er: »Nun bin ich müde. Ich werde gut schlafen. Ruht auch ihr im Frieden Gottes.«
»Hast du gehört, Giorgi«, sagte meine Mutter, und sie hatte so blanke Augen, wie ich sie schon lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte, »er nannte mich wieder Nino. Und er hat auch mehr gegessen als sonst. Es wird bergauf gehn mit ihm.«
Ja, ich hatte gehört. Sein »Nino« hatte mich mehr erschreckt als sein »Mediko« damals, als es zum ersten Mal mein Ohr traf. Denn schlagartig kam mir zum Bewusstsein, dass sein Geist wieder ganz klar gewesen war – überklar. Nach allem hätte ich ihn fragen können an diesem Abend, auf alles hätte er eine Antwort gewusst – eine Antwort im Angesicht der Ewigkeit.
Ich konnte den nächsten Morgen nicht erwarten. Ich schlich mich, sobald der erste Streifen Licht am Himmel erschien, auf leisen Sohlen in sein Zimmer. Still und lächelnd lag er vor mir. Ich fasste nach seiner Hand – sie war feucht und kühl. Ich legte mein Ohr auf seine Brust – ein Herzschlag war nicht zu hören. Ich zog eine Flaumfeder aus seinem Kissen und hielt sie vor seine Nase – kein Fäserchen an ihr bewegte sich. Da drückte ich ihm weinend die Augen zu.
Als meine Mutter hörte, dass er gestorben war, brach sie in jene Totenklage aus, mit der die Georgierinnen ihrem Leid um Verstorbene Ausdruck geben. Da lief die ganze Dienerschaft zusammen. Auch Tirsad eilte herbei. Kein Auge blieb ohne Tränen, alle hatten sie den Blinden geliebt wie einen Vater. Nur meine Mutter konnte nicht weinen. Doch merkte das keiner außer mir, denn sie rieb sich mit einem Tuch die Augen so lange, bis sie ganz rot waren. Ich aber, von Gurams Reden im Tiefsten aufgeschreckt, stellte mich hinter sie und wartete auf eine Gelegenheit, dieses Tuch in die Hand zu bekommen. Und wirklich, es entfiel ihr, und ehe sie sich danach bückte, hatte ich es schon aufgehoben. »Gib!« sagte sie rau. Ich legte es in ihre Hände zurück. Es war völlig trocken.
Als wir Guram beerdigt hatten, sprach ich Zu meinem Vater von seinen Befürchtungen. Doch der machte eine abwehrende Handbewegung. »Dein Oheim hat Gespenster gesehen«, sagte er. »Wenn deine Mutter Kummer hätte, müsste ich das doch wissen. Aber selbst über seinen Tod ist sie leichter hinweggekommen, als ich befürchtet hatte.« Und, als ich schwieg: »Es liegt an dir, Giorgi! Sobald du mir sagst, dass dein Wissen und Können ausreichen, selbstständig als Arzt zu arbeiten, machen wir uns auf den Weg.«
Konnte ich das nicht? Zwei Jahre lang hatte ich Mulana Nafiz' Unterricht genossen, hatte ihn an unzählige Krankenbetten begleitet, hatte Schröpfköpfe aufgesetzt, Einlaufe gemacht, unentwegt mich geübt im Gebrauch der Lanzette und des Brenneisens, und um Sicherheit zu erlangen im Einschneiden von Häuten, im Abtrennen und Nähen, hatte ich die Blätter von Laubbäumen an ihrer Mittelader entzweigetrennt und mit Seidenfäden wieder verbunden, wie unser Scheich es uns vorgemacht hatte. Nein, ungeschickt war ich nicht, ungelehrig nicht! Schon hatte ich ein »Ja, Vater, wir können uns auf den Weg machen« auf der Zunge. Doch da klang mir plötzlich meines Lehrers Stimme im Ohr: »Niemand soll
Weitere Kostenlose Bücher