Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
Tor.
»Frieden sei mit dir und Allahs Erbarmen«, sagte er. »Du weißt nun, wo ich wohne, und wenn du wiederkommst …«
Nie! hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, niemals komme ich wieder! Doch als ich in seine Augen sah, brachte ich das schroffe Wort nicht über die Lippen, sagte nur leise: »Allah leite dich auf seinen Wegen, Karib«, und trat aus dem Hof ins Freie. Und als sich das Tor hinter mir schloss, fing ich an zu laufen, als sei Iblis mit all seinen Höllengeistern hinter mir her.
Ich fand mich aber schwer zurecht in dem Gewirr der Gassen, von denen so manche keinen Durchgang bot, sondern als Sackgasse endete, sodass die Sterne schon ihren vollen Glanz hatten, als ich beim Hause meines Vaters ankam.
O der vertraute Kerzenschein, der aus den Fenstern in den Hof drang! O das Rauschen der großen Platane, deren Blätter noch keinen Anflug einer Verfärbung zeigten! O das Wasserbecken, in dessen nachtdunklem Spiegel nun schon der Widerschein der Sterne aufleuchtete.
Ich wollte an all dem vorbeieilen, um meiner Mutter die Sorge zu nehmen, in die sie immer geriet, wenn ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause war. Aber eine Gestalt, die auf der Umfassungsmauer des Wasserbeckens saß, ließ mich den Schritt verlangsamen. Guram? War das nicht Guram? Und was tat er hier?
Wochenlang schon war der Oheim nicht aus dem Zimmer gekommen. Meistens stand er des Morgens gar nicht auf, sodass man ihm das Essen an sein Lager brachte. Und nun saß er da, allein, barhäuptig, und der Abendwind verfing sich in seinen weißen Haaren.
Und in welch seltsamer Stellung er dort saß! Nicht mit gesenktem Kopf, wie es sonst seine Art war, sondern das Gesicht dem Himmel zugewandt, als könnte er das Licht der Gestirne, die dort in überirdischer Klarheit funkelten, in seinen toten Augenhöhlen auffangen.
Er erkannte mich am Schritt und rief mich zu sich, und als ich neben ihm saß, ließ er mir seine Hände über Stirn und Wangen gleiten, als wollte er meine Züge abtasten, um mich zu »sehen«. Wie wohl meinem erregten Gemüt die Berührung dieser kühlen Greisenhände tat! War es nicht, als wischten sie wie mit einem Zaubertuch von meinem Körper weg, was eine andere Berührung in ihm aufgewühlt hatte?
»Du bist groß geworden«, sagte Guram, »fast schon ein Mann. Und ähnelst deinem Vater mehr als deiner Mutter.«
Dasselbe sagte mir der Spiegel auch, aber dass der Blinde es wahrnehmen konnte, bewegte mich, und ich antwortete, um ihm eine Freude zu machen: »Aber auch dir ein wenig, Ohm – um Mund und Kinn, fühle nur!« und führte seine Hand noch einmal ganz sanft an mein Gesicht.
»Gut, dass du so spät nach Hause kommst, Giorgi«, sagte er, »nun sind wir hier allein.«
Das war es also, was ihn herausgeführt hatte? Allein sein wollte er mit mir und hatte mich darum hier abgepasst? Ich fühlte, dass ihm etwas schwer auf der Zunge lag, und fragte geradeheraus: »Was bedrückt dich, du Lieber?«
Da atmete er tief auf und antwortete: »Giorgi, mein Kind, wenn ich nicht mehr bin, musst du dich mehr um deine Mutter kümmern.«
Dieser eine Satz löschte meine eigenen Nöte so plötzlich aus, wie ein Windstoß eine Kerze ausbläst.
»Fühlst du dich krank, Ohm?«
»Krank?« Er lächelte in unnachahmlicher Weise. »O nein, leicht! So, als ob …« Er vollendete den Satz nicht, und auch ich ging nicht weiter darauf ein. wusste ich doch schon, dass es Menschen gibt, denen das Sterben schwer, und Menschen, denen es leicht wird. Und was kann man jemandem, den man lieb hat, Besseres wünschen, als zu diesen letzteren, Glücklichen zu gehören?
So erwiderte ich nichts, fasste nur seine Hand, die sich kühl und ohne Gegendruck in meine heiße schmiegte und deren Zartheit ich wie etwas überaus Kostbares empfand. Endlich, nach langem Schweigen, fragte ich: »Und die Mutter? Was ist denn mit ihr? Geht es ihr nicht besser als je? Ich habe sie jedenfalls schon seit langer Zeit nicht mehr weinen gesehn.«
»Und das gerade, das deutet ihr falsch, dein Vater und du. Denkt, sie hat das Heimweh überwunden. Denkt, sie hat sich gewöhnt an dieses Leben hinter vier Hauswänden, wie ein Vogel, dem man die Flügel beschneidet, sich an seinen Käfig gewöhnt. Und seht nicht, dass ihre Tränen nach innen fallen, dorthin, wo sie niemals trocknen. Dorthin, wo ihr Salz die Lebenskeime der Seele zerfrisst.«
»Was sagst du da?« rief ich erschrocken, »sie klagt doch nie, geht schon am frühen Morgen an ihre Arbeit, stickt
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