Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
wissen.
»Was denkst du, junger Herr? Ich habe nur die niederen Weihen. Bin Leutepriester, kein Prälat. Es ist mein Brevier. Da stehen die Gebete, die ich täglich zu beten, die Litaneien, die ich zu singen habe. Ein anderes Buch besitze ich nicht.«
Ich griff danach. Die Schriftzeichen tanzten vor meinen Augen. Das sollten Buchstaben sein? Welches denn war Elif, welches Dad, welches Gamel? Ich fragte, und er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Lies mir vor«, bat ich. Er las. Und wiederum verstand ich kein Wort. »Ist das denn Ungarisch?« fragte ich, als er gelesen hatte, und: »Aber nein«, antwortete er, »du wirst doch unsere heiligen Gebete nicht in der Sprache niederschreiben, die jeder Dorfjunge versteht! Lateinisch ist das! Hör nur gut zu, wie schön es klingt!« Und er rezitierte feierlich:
»Ave Maria, gratia plena
Dominus tecum,
Benedicta tu in mulieribus
et benedictus fructus ventri tui Jesus.«
»Ja«, musste ich zugeben. »Es klingt schön. Lehre es mich.« Als der Vater davon erfuhr, stellte er mich zur Rede.
»Ich höre, du lernst bei Pater Laurentius Latein. Willst du denn ein Pfaffe werden?«
Noch ehe ich ein Wort der Rechtfertigung hervorbringen konnte, erhielt ich Beistand von einer Seite, von der ich es am wenigsten erwartet hätte.
»Und warum sollte er nicht?« rief die Treszi-Neni und trat an uns heran. »Wäre es nicht gut, wenn wir einen Geistlichen in der Familie hätten, der nach unserm Tode unsern armen Seelen mit seinen Gebeten den Aufenthalt im Fegefeuer verkürzen könnte?«
Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Aber dass sie mir zu Hilfe kommen wollte, war offensichtlich und berührte mich tief. Immer hatte ich gedacht, sie sähe mich mit scheelen Augen an, und nun hatte der Vater also doch recht, auch sie wollte das Beste für uns alle. Und so antwortete ich rasch: »Ja, der Pater lehrt mich lateinische Gebete, und die sind sicherlich viel wirksamer als ungarische. Sprachst du nicht auch ein solches an meiner Mutter Grab?«
Da schwieg er und verlor auch später kein Wort mehr über diese Sache.
Lateinisch. Auf welch seltsame Art Pater Laurentius mir das beizubringen suchte. Ein und dasselbe Wort, ständig wiederholt mit jeweils verschiedener Endung – »deklinieren« nannte er das, und die Endungen sollten den »casus« bestimmen, in dem es stand. Ach, keine der Sprachen, die ich bis jetzt gelernt hatte, war mir auf so mühsame Art beigebracht worden. Mit zwei Muttersprachen war ich aufgewachsen, das Persische hatte ich mühelos mit Spielkameraden gelernt, und selbst das Arabische war mir leichtgefallen, nachdem mir der Vater den Umgang mit Araberjungen ermöglicht hatte, sodass es sich mir übers Ohr einprägen konnte und nicht über den Verstand. Doch als ich den Pater fragte, ob es hier denn nicht auch Häuser gebe, in denen lateinisch gesprochen werde, lachte er mich aus. »Hier nicht und nirgendwo sonst. Schon seit tausend Jahren spricht kein Volk mehr diese Sprache!«
Seit tausend Jahren! Wie kann sie dann aber noch eine solche Kraft entwickeln, eine solche Macht ausüben, dass sie die andern Sprachen aus allen Büchern verdrängt? Aus allen Büchern, von allen Dokumenten – sodass gültig nur ist, was mit ihren Worten festgehalten wird? Seltsames Abendland, wo so etwas möglich ist!
Gleichwohl hatte die lateinische Sprache für mich etwas Bestrickendes. Man konnte sie zergliedern, ihre Struktur, ihren Aufbau kennenlernen, gleichsam wie ein Arzt die Kenntnis des lebenden Körpers vom toten bezieht, den er zerschnitten hat. Und wer sie beherrschte, konnte sie anwenden in allen Ländern der abendländischen Christenheit und brauchte keine andere mehr zu lernen, wenigstens nicht, solange er sich in Literatenkreisen bewegte. Und nichts anderes schwebte mir vor.
Ich fragte also nicht mehr nach dem Tun und Lassen in Haus und Hof, sattelte gleich nach dem Morgenimbiss mein Pferd, ritt zur Frühmesse und setzte mich dann hinter meine Exerzitien. Und mein am Koran geschultes Gedächtnis kam mir dabei sehr zu Hilfe, sodass Pater Laurentius über meine schnellen Fortschritte nicht genug staunen konnte.
Da es ganz unmöglich war, in Kövár auch nur einen Bogen Papier aufzutreiben, schrieb ich auf eine Holztafel, die mein Lehrer mit erwärmtem Bienenwachs überstrich und dann erkalten ließ, sodass die Buchstaben mit einem Griffel eingeritzt und mit dem Fingernagel wieder unsichtbar gemacht werden konnten, wenn sie ihren Dienst getan hatten – ein billiges und
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