Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
Das präge dir wohl ein. Und wenn sie einen erst dort haben …«
Er stockte. Ich aber wollte auch das Ende des Satzes hören.
»Was dann?« fragte ich ungeduldig.
»Nun, dann ist's bis zum Scheiterhaufen nicht mehr weit.«
Er ging zum Fenster und schloss es, als röche er schon den Brandgeruch.
Doch dann, wie um die ketzerischen Gedanken im Keime zu ersticken, fuhr er fort:
»Hast du zu Ende gedacht, Georgius? Wenn es kein persönliches Weiterleben nach dem Tode gibt, sondern nur ein Zurückfließen in den überpersönlich-unsterblichen Geist, aus dem alles stammt, dann gibt es auch weder Lohn noch Strafe, kein Paradies und keine Hölle – und wer würde dann noch das Gute tun und das Böse lassen?«
Ich war betroffen von dieser Frage, und die Antwort sprang mich an, als ob der Blinde, der so viel mehr gesehen hatte als andere, sie mir einflüsterte.
»Sollte es denn keinen Menschen geben, Domine, der aus Liebe zu Gott dem Guten nachstrebt? Und wäre er der Vollkommenheit nicht näher als derjenige, der es nur um des Lohnes willen tut und das Böse nur um der Strafe willen lässt?«
»Doch, mein Lieber, es gibt auch solche Menschen. Aber was meinst du, wie würde die Welt aussehen, wenn man jenen, die der Gottesliebe nicht fähig sind, die Gottesfurcht austriebe? Die höhere, reine Wahrheit, die dem Denker, dem Weisen sich in der Philosophie erschließt, muss – und das sagt unser Ibn Ruschd ja gleichfalls – den Einfältigen in Bildern dargestellt werden. Die Seligkeit der Gottesliebe also im Bilde des Paradieses, die Unseligkeit der Ichsucht, aus der alle Gier und aller Hass, alle Habsucht und Gewalttätigkeit entspringen, in dem der Hölle. Wer aber das Heil der Menschen will, der muss auch den Schwachen, den unselbstständigen einen Halt geben – und was tut die Kirche mit ihrem Lehrgebäude anderes? Wer es antastet, wer daran rüttelt, tastet die Ordnung der Welt an. Und darum ist die Ketzerei die größte Sünde, die es gibt.«
»So muss also die höhere Wahrheit von dem, der sie erkannt hat, in der Brust verschlossen werden?«
»Nicht in der Brust verschlossen. Aber mitgeteilt nur denen, die sie fassen können. Man wirft nicht Perlen vor die Säue. Man gibt das Heilige nicht den Hunden zu fressen. Du weißt, wer das gesagt hat.« Er sah mich an, als wartete er auf eine Entgegnung. Als ich aber stumm blieb, fuhr er fort: »Wenn ein der Wissenschaft Ergebener in seiner Gelehrtenstube den Geheimnissen der Natur und den Möglichkeiten zu ihrer Erfassung nachgeht, so soll er seine Gedanken, die vielleicht in der einen oder andern Hinsicht den Lehren der Kirche nicht völlig konform zu sein scheinen, nicht unter das Volk bringen, das sie nur falsch verstehen, entstellen und missbrauchen würde. Es gibt keine größeren Wirren im Menschengeschlecht als diejenigen, die durch halb verstandene Wahrheiten entstehen. Sie greifen um sich wie Seuchen, ja wie die Pest selbst.
Weißt du nicht, was die hussitischen Ketzer in Deutschland und in Böhmen angerichtet haben? Und wirst du einem Arzt, der die drastischsten Mittel anwendet, um einer solchen Seuche Herr zu werden, in den Arm fallen?
Das Heilige Offizium hat wahrlich eine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe, und wenn einmal ein Unschuldiger verdirbt, was ja vorkommen kann, ist das immer noch besser, als wenn ein ganzes Volk zugrunde geht.«
Mich schauderte bei diesen Worten, wie wenn ein kalter Windstoß mir durch Mark und Bein gefahren wäre. Er merkte es und setzte hinzu:
»Darum, mein lieber, junger Freund, fahren wir fort in unserer Arbeit, aber schweigen wir über sie. Wenn wir sie fruchtbar machen können für die, denen wir als Ärzte helfen sollen, haben wir das Unsere getan. Wir lesen den Ibn Ruschd ja auch nicht in erster Linie seiner philosophischen, sondern seiner medizinischen Ausführungen wegen. Und da können wir allerhand von ihm lernen.«
Ja, das konnten wir. Und der Doktor flocht es ein in seine Vorlesungen, ohne die Quelle zu erwähnen, aus der er geschöpft hatte.
Ich hörte auch Vorträge anderer Doktoren und Magister und wunderte mich, dass sie alle so viel theoretisches Wissen vermittelten und so wenig praktische Fertigkeiten. Lernten denn die Studenten hier wirklich nicht Eiterbeulen aufschneiden, Gelenke einrenken, Knochenbrüche schienen, klistieren und zur Ader zu lassen? Als ich Doktor Giovanni danach fragte, erhielt ich zur Antwort: »Wird sich denn ein studierter Mann mit solch schmutzigen Geschäften befassen? Das
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